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Blog 877 – 16.02.2025 – Rainald-Preview, Schnee und Hammerhai

Ich freue mich auf die anstehenden zwei Tage Berlin und verschiebe den wöchentlichen Papa-Tag auf den Tag davor, damit alles passt. Bei meinem Vater ist einiges zu tun. Ein gebrochenes Scharnier im Schrank muss mit einer Übergangslösung mühsam ersetzt werden, während mein Vater, der Handwerker, daneben sitzt und alles kommentiert. „Nimm dir doch einen PASSENDEN Schraubenzieher!“ „Papa, der passt perfekt.“ – „Da muss die große Schraube rein!“ „Die ist zu lang.“ „Ist sie nicht.“ „Hier, guck mal, die kommt dann an der anderen Seite raus.“ „Nee, dann ist sie zu lang. Da musst du eine kürzere nehmen!“ Ich merke, wie schwer es für ihn ist, nicht mehr selber zum Werkzeug greifen zu können.

Sein Wahlzettel kommt per Post und das Wahlgeheimnis wird aufgehoben, weil ich alles ausführlich mit ihm durchgehe und seine leicht zittrigen Kreuze nochmal deutlich nachzeichne. Da er immer offen sagt, was er wählt, macht das nichts. Ich würde meine Kreuze da nicht machen, aber es ist eine demokratische Partei und keine AfD, damit ist aus meiner demokratischen Sicht alles fein. Mit der polnischen Pflegekraft fahre ich einkaufen, danach geht’s mit meinem Vater zum Friseur und am späten Nachmittag habe ich noch einen Termin bei seinem Zahnarzt, um die nächsten Schritte für seine Behandlung zu besprechen. Inzwischen habe ich leichte Kopfschmerzen.

Ich fahre etwas früher in Richtung Zahnarzt, um vorher noch den verschlossenen Wahlumschlag im Wahlbüro abzugeben. Weil ich sofort einen Parkplatz finde und der Brief kurz danach schon in der Wahlurne steckt, habe ich Zeit, eine kurze Runde am nahen Rhein vorbeizugehen. Kindheitserinnerungen. Der Rheinpark. Ich spüre sofort warme Luft, mein Sonntagskleidchen und die Sandalen, und wie ich den Schiffen zugucke, die Wege entlangrenne und auf den Mäuerchen der Beete balanciere. Früher hatte die Promenade den typischen 60er-Jahre-Rosenbeet-Charme, aber auch wenn sie heute glatter, langweiliger und sehr viereckig aussieht, ist sie noch zu erkennen.

In der Zahnarztpraxis sitze ich erstmal eine halbe Stunde wartend herum. Meine Kopfschmerzen werden während der nervigen Wartezeit stärker. Vermutlich, weil ich mich so darüber ärgere, dass ich trotz eines Termins noch rumsitzen muss. Die anfallenden Kosten für die Behandlung stellen sich dann auch noch deutlich höher als vorher angesprochen heraus. Ich bekomme Unterlagen mit, die ich bei der Zusatzkasse einreichen muss. Als ich endlich nach Hause fahren kann, bin ich froh. Die Kopfschmerzen bleiben, ich mache mir einen starken Tee und packe meinen Rucksack.

In der Nacht werden die Kopfschmerzen stärker. Ich sollte aufstehen und eine Tablette nehmen, hoffe aber immer wieder, dass ich gleich einschlafen werde und danach alles gut ist. Schon in der Nacht ist mir klar, dass das eine blöde Idee ist, ich stehe trotzdem nicht auf. Als Ergebnis bin ich am Morgen sehr müde und habe noch stärkere Kopfschmerzen. Super. Vor mir liegen sechs Stunden Bahnfahrt. Ich schlucke eine Schmerztablette und weil ich keine Veränderung merke, eine Stunde später eine weitere. Dann geht’s schon los.

In der Bahn döse ich vor mich hin. Lesen wäre zu anstrengend. Die Kopfschmerzen bleiben, werden aber dumpfer. Nach zwei Stunden nehme ich eine weitere Tablette, zwei Stunden später noch eine, döse weiterhin mit geschlossenen Augen und komme in Berlin erstaunlich wach und fast schmerzfrei an. Aber vier Tabletten – das ist für mich schon viel. Das Hotel in Prenzlauer Berg ist nicht mehr taufrisch, aber mein Zimmer ist groß, hat eine kleine Küchenecke und wunderschöne altmodische Doppeltüren zum Balkon, den ich bei aktuell 1 Grad allerdings nicht nutzen werde.

Zwei Stunden Zeit habe ich noch, die verbringe ich fest schlafend im Bett und als ich aufwache, bin ich komplett fit. Da ist es auch schon Zeit, zum Colosseum Filmtheater zu gehen, wo die Preview der 3sat-Doku „Rainald Grebe – Der Tod im Leben“ stattfindet. Die ist der Grund, warum ich nach Berlin gefahren bin.

In der Doku geht es um die Zeit vor dem großen Waldbühnenkonzert, in der Rainald Grebe schon krank war. Der Untertitel „Unheilbar krank zum größten Auftritt“ kommt mir zwar etwas sensationell und nicht ganz passend vor, stimmt in der grundsätzlichen Aussage aber schon. Das „filmbergwerk“ hatte begonnen, Material für die Doku zu sammeln und 3sat das Projekt dann übernommen.

Zur Preview im Kino kommen hauptsächlich Gäste, die an der Doku oder am Waldbühnenkonzert beteiligt waren, und einige Kinobesucher, die sich Karten gekauft haben. Auch Rainald Grebe, der Hauptdarsteller, ist dabei, was sehr schön ist. Im letzten Oktober mussten wegen seiner Krankheit plötzlich alle Konzerttermine auf unbestimmte Zeit abgesagt werden. Inzwischen hat er sich schon etwas erholt, auch wenn er weiterhin noch nicht ganz fit ist. Er sitzt im selbst inszenierten Filmpremieren-Spektakel mit Blitzlichtern, Musik und rotem Teppich, begrüßt Bekannte und Freunde und wird mit den Besuchern auf dem roten Teppich fotografiert. Hollywood. Ich freue mich, mittendrin auch wieder auf Bodo Wartke zu treffen. „Das ist ja hier wie Klassentreffen“, grinst er mich an.

Im Kinosaal sitze ich zufällig neben Guilia, der Cutterin des Filmes. Wir unterhalten uns angeregt über das Schneiden, das kreative Potential, die Freude, die wir beim Filmgestalten fühlen und dass vom Ergebnis das Herz getroffen werden sollte. Dann beginnt die 45 Minuten lange Doku, die über einige Monate bis zum Waldbühnenkonzert 2023 berichtet, als Rainald schon krank war und niemand bei den Hochs und Tiefs wusste, ob das Konzert stattfinden würde. Es ist ein berührender Film über das Leben und den Tod, Freundschaft, das Aufgeben, das Weitermachen und das Trotzdem.

Der Film ist authentisch und ich erkenne alles wieder, aber trotzdem habe ich im Inneren das Gefühl, dass da irgendwas nicht richtig ist. Eine TV-Doku über Rainald müsste doch über seine übersprudelnde Kreativität, über außergewöhnliche Konzerte und neue Inszenierungen berichten. Aber doch nicht über seinen Umgang mit einer Krankheit, die ihn immer wieder ausbremst, die Konzerte verhindern kann und die ihn einschränkt. Da läuft doch etwas völlig falsch. Ich will das nicht. Ich will, dass er wieder unbeschwert und voller Energie als Künstler kreativ sein kann. Den Focus auf die Kreativität, nicht auf die Krankheit.

Trotzdem stelle ich mich der Realität und der reale Preview-Abend ist dann auch sehr schön und voll mit warmer Freundschaft und Zusammenhalt. Wie schön, dass ich dabei sein kann. In Berlin.


Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt Schnee. Nicht viel, aber immerhin so viel, dass er das Bild der Stadt verändert. Kinder schieben mit behandschuhten Händen Schneebälle zusammen, einige Schlitten kratzen über den Asphalt.

Ein äußerst gut gelaunter Schneemann steht auf einem Spielplatz und gefällt mir sehr.

Auch wenn es nur eine geringe Schneemenge ist, die auf dem Boden liegt, macht sie das Laufen längerer Strecken anstrengend, weil es immer mal wieder rutschig ist. Ich bin immerhin warm angezogen und friere nicht.

Im Nikolai-Viertel entdecke ich im Vorbeigehen ein kleines Biedermeiermuseum, das Knoblauch-Haus. Das ist ein guter Anlass für eine Pause. Ich kann die Jacke und den Rucksack abgeben und sehe mir in Ruhe die Zimmer auf den verschiedenen Etagen des Hauses an. Es ist alles liebevoll und schön gemacht und ich kann mir gut vorstellen, wie die damaligen Bewohner vor 200 Jahren aus ihrem Salon durch die Fenster auf die Nikolaikirche geblickt haben.

Danach laufe ich mit neuem Schwung lange Wege durch die weiterhin leicht verschneite Stadt.

Irgendwann bin ich schon in Bahnhofsnähe, habe aber noch viel Zeit, ehe meine Bahn abfährt. Ich setze mich in ein vietnamesisches Restaurant, trinke einen Jasmintee und esse Erdnuss-Zitronengras-Rindfleisch. Als ich überlege, was ich noch machen kann, ohne mich sehr weit vom Bahnhof zu entfernen, fällt mir auf, dass das Naturkundemuseum gerade mal 15 Fußminuten entfernt ist. Prima, das passt.

Das Museum bringt mich in eine vergangene Welt zurück. Nicht, weil es dort Dinosaurierknochen gibt, sondern weil die Sammlungen und die Ausstellungssäle so schön altmodisch sind. Wie aus Humboldts Zeiten. Ich mag das. Die hohen Dinosaurierskelette beeindrucken mich unerwartet mit ihrer Größe. Ja, mir war schon klar, dass die groß sind, aber direkt neben ihnen, also neben ihren dicken Zehenknochen zu stehen und über mir die langen Hälse und hinten die ausladenden Schwänze zu sehen, ist doch was anderes. Es ist schon gut, dass solche Exemplare nicht mehr durch die Wälder trotten und plötzlich vor mir stehen könnten.

Ich schlendere durch alle Säle und bleibe hochinteressiert in einem Raum stehen, der voller Gläser ist, in denen Fische in Alkohol eingelegt sind.

Ein ganzer Raum, Regal für Regal ist mit verschlossenen Gläsern in allen Größen vollgestellt und das Licht bricht sich in den gelblichen Flüssigkeiten. Es ist wie ein Hexenlabor, voll mit verzauberten Fischen. Ich stelle fest, dass ich wenig wissenschaftlich an die Sache gehe. Ich lerne aber, dass es eine historische „Nass-Sammlung“ ist, eine Bezeichnung, die mir völlig neu ist und auch nicht sehr wissenschaftlich vorkommt.

„Armer, kleiner Hammerhai“, denke ich beim Betrachten eines Glases. „Jetzt steckst du hier fest, wirst seit Jahrzehnten angestarrt und kommst nicht weg.“ Andererseits: Im freien Leben gäbe es ihn schon lange nicht mehr. Wäre das so viel besser? Welcher Hammerhai kann schon jahrzehntelang Menschen, wechselnde Moden und immer wieder Neues betrachten. Als er ins Museum kam, gab es vielleicht gerade die ersten Morsegeräte, jetzt kennt er schon Smartphones. Ob er was damit anfangen kann und ob es ihn überhaupt interessiert, bleibt die Frage.

Ich bin wirklich fasziniert. Am Ende des Saales stehen zwei kleine Mädchen und eines sagt angewidert: „Jetzt müssen wir wieder zurück durch den ekeligen Raum!“ Hoffentlich hört das mein armer, kleiner Hammerhai nicht.

Als ich meinen Rundgang beende, ist es Zeit, zum Bahnhof zu gehen. Vor der Reise hatte ich überlegt, ob ich einen Tag länger bleiben und mir noch mehr in Berlin ansehen sollte. Dann dachte ich aber, dass es im Februar kalt und winterlich sein könnte, was für einen freien Tag machbar, bei mehreren aber blöd ist. Das habe ich ja mal gut gedacht. Ich verlasse Berlin mit dem Gefühl, einen angenehmen Kurzurlaub mit schönen Erlebnissen gemacht zu haben. Und mit der Preview und Rainald Grebe, für die alleine sich die Fahrt für mich schon gelohnt hat. Als ich in der Bahn sitze, zum Buch greife und die nächsten fünf Stunden sitzend und lesend verbringen kann, freue mich auch.


Am nächsten Tag schreibe ich sehr gemütlich und bei einer Kanne Tee einen Bericht über die Preview-Veranstaltung. Da fällt mir ein, dass ich doch im Rucksack noch das Filmpremieren-Roter-Teppich-Foto habe, das Rainald mit allen Besuchern gemacht hat. Was für eine schöne Erinnerung an den Abend.