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Blog 891 – 25.05.2025 – Zuckerbäcker, Zahnfee, Bauloch und Ammonit

Die Laube ist so gut wie fertig und mir fällt ein, dass ich seit Jahrzehnten ein kleines Wandregal aufbewahre, das noch nie einen Platz gefunden hat. Stilistisch passt es bei mir nirgendwo rein, auch nicht in die eher klare Linie der Laube, aber es scheint die letzte und einzige Chance zu sein, es zu verwenden. Das ist mehr eine Herzens- als eine Stilangelegenheit.

Das rote Regal hing während meiner Kinderzeit in der Küche von Oma und Opa. Ich vermute, dass mein Opa es selber gemacht hat, kann das aber nicht mehr herausfinden. Es ist etwas nachlässig gebaut und inzwischen schief verzogen, aber es ist für mich immer noch eine starke Verbindung zu Oma und Opa. In Rot passt es aber überhaupt nicht, darum streiche ich es weiß. Dafür, dass es einen schnörkeligen Zuckerbäckerstil hat, ist es vor der weißen Wand dann gar nicht mehr so auffällig. Mal sehen, ob es für immer hängenbleiben wird. Momentan bin ich sehr glücklich, dass es endlich mal einen Platz hat.

Die Katze schläft weiterhin oft tiefenentspannt auf der Bank. Zum Glück bekommt sie nicht mit, dass zwischendurch eine kleine Eidechse quer durch die Laube wuselt.


Am Mittwoch ist der übliche Papa-Tag, an dem es zufällig den Zahnarzttermin für die finale Teilprothesen-Anpassung gibt. Ich rechne mit höchstens einer Stunde – wie lange kann es schon dauern, bis ein Gebiss eingesetzt ist? -, sitze dann aber doch zweieinhalb Stunden im Wartezimmer.

Als mein Vater fertig ist, ist er nicht besonders gut gelaunt und sagt, dass die neue Prothese nicht passt. Die Zahnärztin erklärt mir, dass sie und der Techniker mehrere Korrekturen gemacht hätten, die Aussagen meines Vaters über die Schmerzpunkte sich aber widersprechen und sie für heute aufhören. „Erstmal dran gewöhnen“, ist der Ratschlag. „Und wenn es nicht besser wird, kommen Sie wieder.“ Mein Vater findet schon auf dem Heimweg, dass er wiederkommen muss, weil es nicht besser wird.

Während ich bei ihm bin, mutiere ich zur Sherlock-Holmes-Zahnfee und entdecke nach längerem Befragen und vielen widersprüchlichen und oft gereizten Antworten, dass der Schmerz anscheinend nur eine Stelle betrifft. Und dort tut es weh, wenn der obere Gebiss-Zahn auf den unteren Echt-Zahn trifft. Vielleicht passt da etwas nicht, vielleicht ist der Kiefer aber auch nur gereizt und am nächsten Tag ist alles gut. Als ich mich am frühen Abend verabschiede, möchte mein Vater, dass ich am nächsten Morgen sofort beim Zahnarzt anrufe. Die Prothese tut weh und er möchte nicht mehr abwarten. Weil er um 11 Uhr zu einer Beerdigung gehen möchte, zu der ich ihn begleiten muss, werde ich sowieso wieder zu ihm fahren müssen. Statt zur Beerdigung können wir auch zum Zahnarzt gehen.


Um 7:30 rufe ich am nächsten Morgen beim Zahnarzt an, bekomme einen „Kommen Sie so früh wie möglich“-Termin und fahre sofort zu meinem Vater, um ihn abzuholen. Um 8:15 sitzen wir im Wartezimmer. Schon wieder.

Als er aufgerufen wird, gehe ich diesmal mit ins Behandlungszimmer, um zwischen Ärztin und Papa dolmetschen zu können. Wieder macht er widersprüchliche Angaben zum Schmerz und kann ihn nicht klar bezeichnen. Mal tut es an der besagten Stelle mit den beiden Zähnen weh, dann überall, dann oben, dann immer. Die Ärztin schleift mehrmals Material an der Prothese weg, es wird aber nicht besser. Schließlich geht sie, um einen Techniker zu schicken, der sich alles ansehen soll. Während wir im Behandlungszimmer warten, frage ich meinen Vater weiter aus und kreise die Problemstelle dabei enger ein. Irgendwann sind wir nur noch am Ort des Zahnaufeinandertreffens. Ich frage: „Wo tut es da denn weh? Oben oder unten?“ „Überall.“ „Also tut es oben und unten gleich weh?“ „Nee. Oben gerade nicht so.“ Er fasst an den unteren Zahn, stöhnt auf und sagt überrascht: „Unten tut es mehr weh.“ Ich frage weiter, er wackelt am Zahn und stöhnt wieder auf. „Aua!“ Mein innerer Zahnfee-Holmes nickt zufrieden. Der untere Echtzahn ist vermutlich das Problem, nicht die Prothese.

Ich bitte nochmal um einen Zahnarzt anstelle des Technikers. Der kommt und stellt eine Wurzelentzündung fest. Kein Wunder, dass es jedes Mal schmerzt, wenn von oben ein Zahn darauf drückt. Zwei Stunden nach unserer Ankunft verlassen wir die Praxis nach einer ersten Wurzelbehandlung (Papa) und einem neuen Termin für die zweite Wurzelbehandlung in der Tasche (ich). Leider ist es früh genug, um gleich weiter zur 11-Uhr-Beerdigung zu fahren. Ich seufze innerlich tief.

Auf dem Friedhof sind recht viele Leute und es ist unerwartet kühl. Ich schiebe meinen Vater mit dem Rollstuhl in die kleine, aber etwas wärmere Trauerhalle und will draußen bei den anderen Leuten warten. Aber mir ist es zu kalt und ich habe überhaupt keine Lust, jetzt einer Trauerfeier mit einem erfahrungsgemäß lang und salbungsvoll redenden Pfarrer zuzuhören, zumal ich den Verstorbenen und die anderen Leute gar nicht kenne. Und so verlasse ich die Menschenansammlung unauffällig, schlendere erst herum und gucke mir Gräber und Grabsteine an, was ich generell gerne mache, und gehe dann spontan zum naheliegenden Schulzentrum. Ich weiß schon, dass das Gymnasium im letzten Jahr wegen PCB- und Asbestbelastung abgerissen wurde. Dabei war das gerade frisch gebaut, als ich im fünften Schuljahr dort begann.

Ich gucke auf die grasbewachsene Mulde, in der früher das Untergeschoss mit der Schulmensa war, daneben Klassenräume, in denen es in der Unterstufe auch mal Klassendisco gab. Ich sehe den Eingangsbereich und das Treppenhaus vor mir und weiß noch, wie ich als Fünftklässlerin im Foyer stand und der Schülerband mit den drei Jungen aus der sechsten Klasse zuhörte, die mich so beeindruckten, dass ich alle drei Teilnehmer auf dem Schulhof immer wiedererkannte. Den „Schlagzeuger“ traf ich vier Jahre später in der Musikschulcombo, in die ich neu eintrat, und sang später mit ihm im Schulchor. Kurz vor Ende der Schulzeit wurde er „mein Freund“ und zehn Jahre später „der Gatte“. All das geht mir durch den Kopf, als ich auf die erstaunlich kleine Stelle gucke, an der die große Schule verschwunden ist. Oder wie ich es im letzten Jahr auf dem Klassentreffen schon dachte: Wir haben unsere Schule überlebt. Wieviel PCB und Asbest wir in den Jahren dort aufgenommen haben, will ich gar nicht überlegen.

Auf dem Rückweg befürchte ich schon, zu spät zur Trauerhalle zu kommen, aber der Pfarrer spricht immer noch. Mich hat niemand vermisst. Im Anschluss bringe ich meinen Vater nach Hause, setze mich bei seinem Mittagessen kurz dazu, unterhalte mich etwas mit der neuen polnischen Betreuung, warte, bis mein Vater sich nach dem Essen hingelegt hat und kann wieder fahren. Gestern war es ein ganzer, langer Tag bei ihm, heute ein halber und am Wochenende war ich auch da, weil es Personalwechsel gab und die neue Betreuerin ihren ersten Tag hatte. Und trotzdem habe ich oft das Gefühl, dass ich zu wenig da bin und meinen Vater oft alleine lasse. Verrückt.

Zuhause gehe ich in den Garten und hacke trockenharte Erde weg, um Regenwassertonnen hinter der Laube aufzustellen. Puh, was für eine mühsame Arbeit. Merke: Bei leichten Kopfschmerzen und harter Erde ist das Arbeiten mit einer Spitzhacke nicht schön, weil jeder Schlag den Kopf erschüttert. Ohne Kopfschmerzen merke ich das gar nicht. Immerhin stehen am Schluss zwei Tonnen sauber unter der Regenrinne. Ich habe noch zwei weitere, aber für heute ist es genug.


Dass der brutal abgesägte Maulbeerbaum wieder kräftig austreibt, freut mich sehr. Er soll nur nicht mehr so hoch werden, damit er die reifen Früchte nicht wieder so weiträumig auf der Terrasse verteilen kann. In diesem Jahr wird es aber wohl gar keine Früchte geben, weil er erstmal wieder wachsen muss.


Am Freitag fahre ich dem Frankfurt-Sohn entgegen und hole ihn in Limburg von der Bahn ab. Ich fahre extra etwas früher, um noch eine Stunde in aller Ruhe durch die Fußgängerzone zu bummeln und ein bisschen Urlaubsgefühl zu haben. Von Limburg kenne ich nur die Stadthalle, in der früher die Wise Guys Konzerte gaben. Jetzt hängt gerade ein Plakat der „Alte Bekannte“ mit einer Konzertankündigung im Fenster. So viel hat sich in den letzten zwanzig Jahren gar nicht geändert. In der Altstadt gibt es einige hübsche Fachwerkhäuser, die ich gar nicht erwartet hatte.

Als ich aus einem Geschäft komme, sehe ich zwei Männer regungslos und wie drapiert auf dem Betonboden der Fußgängerzone liegen. Beide gucken nach unten, der eine ist schwarzgekleidet und liegt unten, über ihm liegt mit ausgebreiteten Beinen ein deutlich muskulöserer Mann, dessen T-Shirt strahlend weiß leuchtet. Sie liegen wie ein eingefrorenes Standbild, beziehungsweise ein Liegebild. Unmittelbar neben ihnen steht ein schwarzgekleideter junger Mann, der lässig ein „OK“ in die Entfernung winkt. Was ist das? Kunst? Wird hier gerade gefilmt oder fotografiert? Modefotos für weiße T-Shirts? Interessiert gucke ich im Vorbeigehen hin und sehe aus dem Augenwinkel, dass ein Polizeiwagen anfährt, den der junge Mann zu sich winkt. Jetzt verstehe ich: Da hat ein Ladendetektiv einen Ladendieb gestellt – beziehungsweise gelegt – und sich zur Sicherung einfach draufgelegt. Minutenlang. Spannend geht es zu in Limburg.


Am Samstagfrüh fahre ich mit dem Sohn zusammen nach Weibern in die Eifel, wo ich im Steinhauerkurs auf Steine und er im Schmiedekurs auf Metall klopft. Ich suche mir einen passenden Stein und lege los. Auf einer Wiese zu stehen und stundenlang auf einem Stein herumzuhauen, ist genau das, was ich gerade brauche. Ohne jede Ironie. Mein Plan ist, einen Ammoniten zu finden, der im Prinzip ja im Stein liegt und den ich nur freiklopfen muss. „Bonk, bonk, bonk“ sind dumpf die Steineklopfer zu hören. Dazwischen immer wieder hell: „Kling, kling, klong“ die Schmieder.

Als der erste Steinhauertag vorbei ist, ist der Ammonit schon zu sehen. Noch hat er etwas von Schnecke, aber die Feinheiten werden am Sonntag drankommen. Ein weiterer Tag zwischen klopfenden Menschen, mit Staub, Muskeleinsatz und der Konzentration auf den Stein und seine Form – wunderbar!