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Blog 802 – 10.09.2023 – Staubige Entspannung, zwei Welten und viele Namen

Am Sonntag bin ich den zweiten Tag beim Steinhau-Wochenende in der Eifel. Es geht gefühlt viel langsamer als am Vortag voran, denn die Feinheiten und spiegelgleichen Angleichungen kosten viel Zeit. Aber die habe ich ja. Bei einigen Teilnehmerinnen kommt die Idee auf, dass wir im nächsten Jahr mal eine ganze Woche klopfend und staubend auf dem Gelände verbringen könnten. Ja, das wäre was!

Am Abend komme ich müde, staubend und lächelnd nach Hause. Den schweren Löwenkopf, den mir in der Eifel zwei Steinhauer ins Auto gehoben habe, schleppe ich mit dem Gatten zusammen bis in den Hof. Dort steht er erstmal, bis ich im Garten einen Platz für ihn ausgesucht habe. Sein Gewicht verhindert mehrfaches Probestellen und Umziehen. Hach, Wellness-Wochenenden sind für mich nicht Massage, Meditation und Gesichtspackung, ich wähle Stein, Meißel und Klöpfel und hämmer mich entspannt und glücklich.

Am Montag bin ich auf einer Beerdigung, um mich von einem recht alten, sehr netten Menschen zu verabschieden. Um mich herum gibt es viele mir vertraute Leute, die Bezug zu einer früheren Zeit meines Lebens haben. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, plötzlich wieder mittendrin zu stehen und sofort eingebunden zu sein, während wir ansonsten beinahe wie in anderen Welten leben, weil wir im Alltag keine Bezugspunkte mehr haben. Das ist so in Ordnung, das Leben verändert sich immer wieder, aber es berührt mich schon. Es kann sein, denke ich, während ich mich umsehe, dass ich manche von ihnen jetzt zum letzten Mal persönlich treffe und mich zum letzten Mal mit ihnen unterhalte, weil wir in Zukunft kaum noch Gelegenheiten haben werden, uns irgendwo zu begegnen. Wir gut, dass wir es jetzt nochmal machen konnten, auch wenn der Anlass eher traurig war.

In Köln ist das diesjährige „Buch für die Stadt“ „Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher. Es wird an vielen Orten öffentlich gelesen werden, und ich bin in der Fünfergruppe, die das hier im Ort machen wird. Allerdings hat der Roman mehr als 500 Seiten, die für fünf Lesungen deutlich gekürzt werden müssen.

Kürzen ist anstrengende und nervige Arbeit, und trotzdem bin ich so wahnsinnig, der Gruppe anzubieten, den kompletten Roman zu bearbeiten und in fünf Vorleseteile zu gliedern, die jeweils maximal eine Stunde dauern. Natürlich könnte jeder seinen eigenen Lesepart bearbeiten, aber dann streicht der eine Vorleser einen anderen Erzählstrang als der nächste und der dritte lässt eine Person komplett weg und lässt stattdessen eine andere Person drin, die von anderen Vorlesern gestrichen wurde. Gerade für die Zuhörer, die zu allen fünf Lesungen kommen, könnte das sehr unübersichtlich werden.

Lesen muss ich den Roman ja sowieso komplett, da kann ich das auch gleich mit ersten Notizen zu Namen und Kapitelinhalten machen. Mit einer Kanne Tee und dem Buch setze ich mich in den Garten. Der Roman ist gut geschrieben, aber holla! – bis zu Kapitel 11 (von 35) habe ich schon 50 Namen mit Berufsbezeichnung und ihrer Verbindung notiert. 50 Namen! Wer soll da denn den Überblick behalten? Vor allem, weil ich nicht erkennen kann, ob die gerade vorgestellte Person unwichtig ist und nicht mehr in der Geschichte auftauchen wird oder ob sie später ein bedeutender Teil der Auflösung sein wird.

Ich erinnere mich, dass der Roman die Vorlage für die aufwändige Fernsehserie „Babylon Berlin“ von 2017 war. Die haben wir begeistert geguckt – zumindest die drei ersten Folgen. Dann haben wir schon den Überblick über die vielen mitspielenden Personen und die vielen Namen verloren, was durch das oft ähnliche Aussehen der Darsteller noch verstärkt wurde. Sofort war unser Interesse weg, wir waren genervt und haben nicht weitergeguckt.

Bestseller hin oder her – wer so viele Namen und Personen braucht, um eine Geschichte zu erzählen, kann nicht ordentlich selektieren, das Wesentliche nicht deutlich herausarbeiten und macht den Zuschauern und Lesern durch eine unfassbare Menge von Personen das Mitkommen schwer. Es kann doch nicht sein, dass man einen Roman nur mit parallelem Nachschlagen in einem mehrseitigen Namensverzeichnis erfassen und verstehen kann.

Drei Tage später habe ich den Roman komplett gelesen und 102 Personennamen aufgeschrieben. Einhundertzwei! Ich fasse es nicht! Dazu kommen noch die Namen diverser Kneipen, Nachtclubs und Varietés. Straßen, Plätze, konkurrierende Verbrecherverbindungen, unterschiedliche politische Parteien, Verbindungen und Gruppierungen. Pille, Dephi, Moka Efti, Kakadu, Venuskeller, Haus Vaterland, Eldorado, Berolina, Abteilung A, Abteilung E, Abteilung ED, Abteilung IA, Kommunisten, Trotzkisten, Zaristen, Stalinisten, Rote Festung, Schwarze Hundert … Aaaaaarg! Mein Hirn ist mit der Menge von Namen und Bezeichnungen komplett überfordert.

Zum Glück habe ich meine Kapitel-Stichpunkte und die langen Namenslisten und kann immer wieder nachschauen und gezielt zurückblättern – das muss ich auch -, um zu verstehen, um was es in der Geschichte geht und wer mit wem über drei Verbindungen zusammenhängt. Ich bin weiterhin sehr genervt von den vielen Namen. 102 Personen! Was für eine Zumutung! Ich mache mit mir einen Kompromiss aus: Den „nassen Fisch“ werde ich mit großer Einsatzbereitschaft zu fünf schönen Lesungen bearbeiten, die spannend sind und gut auf die Auflösung hinarbeiten. Im Gegenzug werde ich kein Buch aus der Rath-Reihe mehr lesen. Nie mehr.

Im kleinen Theater „Szene 93“ wird „Der Tod und das Mädchen“ gespielt. Nur drei gute Darsteller auf der Bühne und recht harte Kost. Es geht um Folterungen während einer Diktaturzeit, einen vermeintlichen Täter und die Fragen, ob die Taten gerächt werden müssen oder ein Schlussstrich gezogen werden sollte, um aus dem alten Muster des Terrors zu kommen. „Schließ es endlich ab!“, ist einfach gesagt, wenn man nicht selber das Opfer der Gewalt geworden ist. Aber hilft es einem selbst, voller Hass zu sein und mit Gewalt zu reagieren? – Angesichts der Lage in vielen Kriegsgebieten und aktuell in der Ukraine, in der Russen foltern und töten, ist das Thema erschreckend aktuell und gut nachzuvollziehen. Im Theater gibt es viel Applaus.