Blog

Blog 906 – 07.09.2025 – Holzschnitzel, Camping und Zacken in der Krone

Am Sonntag bereite ich meinen „Schlafwagen“ vor. Das ist unser Kombi, dem wir die Rücksitze ausbauen und den ich mit gut gepolsterter Matratze, Kissen, Licht und Gardinen ausstatte. Am Montag früh fahre ich damit nach Bochum zum Figurentheater-Kolleg, wo ich fünf Tage bleiben und nachts in meinem Auto übernachten werde. Als früheres Camping- und VW-Bus-Kind liebe ich es sehr, unabhängig und sehr gemütlich im Auto zu schlafen.

Im Kolleg findet unter der Leitung des grandiosen Jürgen Maaßen der Kurs „Aus Holz geschnitzt – Bühnenwirksame Theaterfigurenköpfe“ statt. Vor drei Jahren habe ich den Kurs schon mal besucht, konnte aber nur an drei von fünf Tagen dabei sein. Im Prinzip weiß ich also, worauf es ankommt, aber einen Kopf aus Holz zu schnitzen ist sehr anders, als ihn aus Stein zu klopfen oder aus Schaumstoff zu bauen.

In der ersten Theorie geht es um Formen, Profile, Rundungen und Gewichtsverteilungen. Ein Kindergesicht ist anders aufgeteilt als das eines Erwachsenen, bei einer Handpuppe liegt der Schwerpunkt des Kopfes an einer anderen Stelle als bei einer Marionette.

Dann zeichnen die sechs Teilnehmer*innen ihre gewünschten Köpfe in Vorder- und Seitenansicht auf Papier. Ich schwanke kurz zwischen dicker, fröhlicher Köchin und schmalem, doofen Prinzen und entscheide mich für die Königsfamilie. Dabei habe ich vor, sowohl die langen Haare des Prinzen als auch seine Krone aus dem Holz zu schnitzen. „Oh, das ist aber Arbeit“, gibt Jürgen zu bedenken und schlägt vor: „Mach doch die Krone später aus einem schmalen Metallreif.“ Ja, könnte ich, aber mich reizt es, den komplizierteren Weg zu gehen, beziehungsweise zu schnitzen. Andernfalls würde ich später immer denken, dass ich hätte versuchen sollen, die Krone mitzuschnitzen. Die Puppenkopfkonturen werden auf Holzklötze übertragen, die Jürgen Maaßen an der Bandsäge passend vorsägt. Damit ist schon viel Arbeit weg, weil alles sicher Überflüssige weg ist.

Damit mein Prinz später seine schräg sitzende Krone auf dem Kopf hat, muss er beim Vorsägen einen dicken Klotz um die Stirn behalten, aus dem ich nachher die Krone definieren muss. Außerdem behält er in Kinnhöhe einen dicken Klotz, aus dem seine Haartolle geschnitten werden muss. Damit habe ich nicht viele Anhaltspunkte für das Profil, außer der Nasenspitze, die am höchsten Punkt der mittleren Kante liegen muss. Ich greife zum Schnitzmesser und schnitze optimistisch los. Erstmal weg, weg, weg. Die Schnipsel fallen.

Normalerweise arbeite ich in kreativen Kursen gerne über die normale Zeit hinaus. Aber das Schnitzen erfordert viel Konzentration und ich bin nach den beiden letzten Wochen innerlich ziemlich erschöpft. Außerdem hatte ich gedacht, dass ich stundenlang herumsitzen und lässig vor mich hinschnitzen werde, aber ich stehe fast nur vor dem Arbeitstisch, beuge mich über den Schraubstock, in dem mein Prinz klemmt, und fokussiere mich auf jeden Schnitt. Darum überziehe ich den Arbeitstag nur wenig, gehe dann lieber eine Runde im Park spazieren und mache mir anschließend einen ruhigen Abend mit Buch und Salzstangen in meinem Schlafwagen. Der steht auf dem Hof des Figurentheater-Kollegs und ich habe einen Schlüssel bekommen, um jederzeit ins Kolleg reinzukommen und die Küche, Dusche und Toilette benutzen zu können. Perfekt.

Ich schlafe gemütlich und fest und gehe am nächsten Morgen zur Bäckerei, um etwas zu frühstücken. Es ist lustig, wie die tiefstehende Sonne meinen Schatten riesig langzieht, aber das Bild zeigt zu meinem Bedauern auch, dass ich „alleine“ im Kurs bin und niemand von der Schweiz-Köln-Gang dabei ist. Die macht es immer lustig, warm, voller Gelächter und zu einem erholsamen Urlaubsvergnügen mit vertrauten Freundinnen.

In der Bäckerei angekommen, starre ich auf die Preistafel. Ein einfaches Käsebrötchen 3,17 Euro? Ein Schinkenbrötchen 4,27? Abgesehen von den sehr krummen Preisen, finde ich das doch ziemlich teuer. Ich verzichte aufs Essen und wähle einen großen Chai Latte, weil ich auf den wirklich Appetit habe und ihn selten bekomme. Die Tasse ist tatsächlich milchkaffeegroß, aber der Preis mit 5,38 Euro ebenfalls. 5,38 für einen Chai Latte! Für diesen Morgen leiste ich mir das, sitze eine halbe Stunde gemütlich am Tisch und lese dazu den Islandkrimi, den ich beim Hinweg im Bücherschrank gefunden habe, aber für die nächsten Tage lasse ich mir etwas anderes einfallen. Aber lecker ist er schon, der Chai Latte. Ich fühle mich wie im Urlaub – in Bochum-Langendreer.

In der Werkstatt geht es weiter mit dem Heranschmitzen an Augen, Mund und Krone.

Meine morgendlichen Frühstücke absolviere ich ab dem zweiten Tag im Auto, gieße mir vorher im Kolleg eine Thermoskanne mit Pulver-Chai-Tee auf (10 Portionen für 4 Euro), setze mich mit einem Kissen gemütlich in die offene Tür und lese weiter den spannenden Krimi. Die Luft ist warm, die Vögel zwitschern – naja, meistens krähen die Krähen -, Eichhörnchen springen über den Hof und laufen mühelos die hohen Bäume rauf, ab und zu bellt ein Hund. Es ist ungezwungener Campingurlaub.

Danach geht es in die Werkstatt, um immer mehr Holzraspel zu entfernen und der gewünschten Figur immer näher zu kommen.

Die Krone muss freigelegt werden, was ganz schön viel Arbeit macht. Außerdem stört sie sehr beim Schnitzen des Gesichtes, weil sie immer wieder im Weg ist und das Schnitzeisen an ihr anstößt. „Da hast du dir ein schönes Ei gelegt“, sagt Jürgen mitleidig, grinst aber dabei. Na klar, er weiß genau, was für Probleme das bringt, aber ich will es ja nicht anders. Während mein Prinz immer feinteiliger aus dem Holz guckt, finde ich, dass er ein bisschen wie eine Kirchenfigur aussieht und ich gerade die Richtung „Herrgottschnitzer aus Oberammergau“ einschlage. Aber wenn er nun mal so aussieht, der Prinz. Die Köchin wäre überzeichnet und karikaturhafter gewesen und damit besser für eine große Bühne geeignet. Sie wäre vermutlich auch schneller geschnitzt gewesen, aber ich freue mich trotzdem, dass ich den Prinzen gewählt habe.

Jürgen Maaßen geht während des Kurses immer wieder herum, gibt Tipps, erklärt oder nimmt das nicht mehr scharfe Schnitzeisen kurz mit und schleift es. Oft guckt er sich einen Holzkopf an, greift zum Schnitzeisen und schneidet sauber kleine Holzschnipsel weg, wo das Holz sich doch genau an der Stelle immer so störrisch zeigte und in raue Fasern zersplitterte. Dann muss er gestoppt werden, wenn man die Stelle/die Nase/das Auge nicht komplett von ihm, sondern lieber selber geschnitzt haben möchte. Er erzählt Geschichten, kann in hundert verschiedenen Stimmen sprechen und ist ein total netter, sanfter Mensch. Ein großer Künstler ist er auch, auch wenn er das bescheiden immer ein wenig abtut.

Beim Messerschleifen setzt er auf gute Maschinen, erklärt auf Anfrage aber auch, wie die Schnitzmesser maschinenlos an Schleifsteinen geschärft und auf Leder abgezogen werden.

Bei meinem Prinzen bricht während des Bearbeitens plötzlich ein hinterer Kronenzacken ab. Erst will ich ihn wieder anleimen und weiter bearbeiten, doch dann finde ich, dass es passt, wenn ihm ein Zacken aus der Krone gefallen ist. Wobei der Prinz nicht so doof aussieht, wie ich ihn haben will, dafür eher depressiv. Na, vielleicht eine Mischung aus beidem.

In der letzten Nacht regnet es und ich werde mehrfach in der Nacht vom Trommeln der Regentropfen auf das Autodach wach. Jedes Mal erwache ich hocherfreut, grinse breit und zufrieden, kuschle mich in meine Decke und schlafe sofort wieder ein. Trommelnde Regentropfen auf dem Zelt- oder Autodach sind eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen.

Am letzten Kurstag wird mir klar, dass mein Prinz nicht fertig wird. Da werde ich noch heimarbeiten müssen, um die letzten Details und Glättungen zu machen. Ein Kurstag mehr hätte mir für die Arbeit gutgetan. Oder eine Krone weniger.

Aber nicht schlimm. Die fünf Tage sind tatsächlich Erholung. Und ich bin nach den letzten drei Wochen mit Dreharbeiten als Handspielerin und Prinzenkopfschnitzen endlich wieder sehr nah am Puppenspielen und Puppenbauen dran. Das soll nach dem anstrengenden letzten Jahr jetzt wieder mehr Platz in meinem Leben haben.


Über Jürgen Maaßen und seine Arbeit gibt es ein sehr schönes Buch:
Geschnitzt – Geformt – Gestaltet . Der Figurenbildner Jürgen Maaßen

204 Seiten, durchgehend farbig bebildert
Für 30,- € erhältlich bei Ambrella Figurentheater, Hamburg
Mail: figurentheater(-at-)ambrella.de


Am Samstag fahre ich zuerst bei meinem Vater vorbei, kaufe dort ein und regle ein paar Kleinigkeiten. Es hat mit seiner Betreuung alles gut geklappt und war kein Problem, dass ich schon wieder fünf Tage weg war. Ab jetzt bin ich für ihn erstmal wieder gut erreichbar.