Blog 901 – 03.08.2025 – Nördliche Kühle, kyrillische Buchstaben und Klimatechnik
Das Wetter ist zwischendurch ziemlich verregnet. Vom Dürresommer, der während der heißen Wochen im Frühjahr angekündigt wurde, ist nichts zu merken. Was nicht heißt, dass es den Klimawandel nicht gibt. Das Wetter ist nicht mehr verlässlich und wird in alle Richtungen extremer.

Die Regenschauer und sogar komplett nieselige Tage nerven mich aber überhaupt nicht. Ich bin sowieso mehr „Team kühl“ als „Team heiß“. Länder wie Norwegen, Schottland und Island interessieren mich weit mehr als die, in denen es hohe Temperaturen gibt. Am Tisch zu sitzen, eine Kanne Tee vor mir zu haben und in die grau verregnete Landschaft zu gucken, finde ich gemütlich. Wobei ich gerade äußerst selten Zeit habe, zu sitzen und in die Landschaft zu gucken. Aber Tee trinken geht. Dass es zwischendurch trockene und sogar sonnige Stunden gibt, finde ich aber auch nicht schlecht.
In Planung stehen für den August einige Tage Puppendreh, bei denen ich als Handspielerin dabei bin. Als möglicher Drehort kamen im Vorfeld drei Städte in Betracht, von denen eine „südlich und warm“, die andere „noch südlicher und noch wärmer“ und die dritte „nördlich und gemäßigt“ ist. Zu meiner Freude wird es wohl die nördliche werden. Wobei das mit dem gemäßigten Wetter im Norden auch nur bedingt verlässlich ist, denn sogar im sonst eher kühlen Finnland gab es gerade zwei Wochen lang tagsüber mehr als 30 Grad.
Passend zum Puppenthema gibt es im Fernsehen eine Wiederholung von „Happy Burnout“ aus dem Jahr 2017. Die Puppe des nervlich durchgedrehten Puppenspielers, die von Bodo Schulte gemacht wurde, habe ich mitgeschnitzt, -genäht und -geklebt, darum ist sie mir sehr vertraut. Ich gucke den Film extra nochmal an, aber wie schon damals mag ich die Grundidee, die Schauspieler und die gefilmten Bilder, finde aber die Dramaturgie und die Umsetzung zu seicht. Warum fragt mich bei Drehbüchern eigentlich keiner? Mit so einer Basis könnte man doch einen superguten Film machen, der nicht am Ende Rosamunde-Pilcher-Heile-Welt-Tralala sein muss.

Am Mittwoch gibt es den Betreuerinnenwechsel bei meinem Vater. Es scheint gerade schwierig zu sein, eine recht gut Deutsch sprechende Polin zu finden. Viele der Betreuungskräfte machen im Sommer selber Urlaub oder betreuen während der Ferien ihre Enkelkinder. Die Agentur kann uns diesmal nur eine Ukrainerin zur Verfügung stellen, die sehr geringe Deutschkenntnisse hat, dafür aber ziemlich gut Englisch kann. Eine Ukrainerin finde ich sehr gut, aber ich befürchte Verständigungsprobleme mit meinem eher ungeduldigen Vater, dem ihr Englisch nichts nützt.
Damit die Sache überhaupt eine Chance hat, nehme ich die vierseitige Liste mit dem Tagesablauf meines Vaters – deren erste handschriftliche Ausgabe eine der Betreuungskräfte dankbar annahm und dann nicht aufhob, sondern wegwarf, so dass ich sie komplett neu schreiben musste – und übertrage sie Satz für Satz mit einem Übersetzungsprogramm erst in Polnisch und dann in Ukrainisch.

Danach schreibe ich eine weitere Liste mit den wichtigsten Vokabeln, bei der mein Vater auf Worte zeigen kann, um sich zu verständigen. Die ist ebenfalls dreisprachig plus der Ergänzung in ukrainischer Lautschrift, weil ich beim kyrillischen Alphabet nicht mal weiß, wie es ausgesprochen wird. „Hausschuhe, Straßenschuhe, … Kartoffeln, Bratkartoffeln, Püree, … mehr, weniger, warm, kalt …“ Es ist eine elende Arbeit. Vor allem, weil ich die kyrillischen Buchstaben nicht lesen kann und oft rätseln muss, welche Lautschrift zu welchem kyrillischen Wort gehört. Wäre ja blöd, wenn ich mich da vertue und mein Vater Bratkartoffeln wünscht und immer Püree bekommt. Oder die Hausschuhe anziehen möchte und stattdessen ein Spiegelei essen muss.

Am Mittwoch bin ich früh bei meinem Vater. Erstmal Kleinkram erledigen, um 11 Uhr steht ein Beerdigungstermin an, danach soll der Betreuerinnenwechsel stattfinden. Idealerweise kommt die neue Betreuungskraft am frühen Morgen und macht einen Tagesablauf mit, so dass eine gute Übergabe stattgefunden hat, wenn die alte Betreuung am Abend fährt. Diesmal ist die Ankunftszeit der neuen Betreuung für „13-15 Uhr“ angegeben, während die bisherige zwischen „17-20 Uhr“ abgeholt werden soll. Das ist schon ziemlich knapp und außerdem schwierig, wenn die eine sehr gut Polnisch und gut Deutsch und die andere sehr wenig Deutsch, dafür aber sehr gut Ukrainisch und Englisch spricht. Aber es gibt meine dreisprachigen Listen und vielleicht kann ich außerdem ein wenig per Englisch und Deutsch zwischen beiden übersetzen.
Der Trauergottesdienst in der Kirche gefällt mir zum ersten Mal, weil er liebevoll und persönlich gestaltet ist. Der religiöse Teil läuft fast sachlich ab und ufert nicht in ein für mich schwer zu ertragendes religiöses Gesülze aus. Der Pastoralreferent stellt sogar infrage, ob es ein Paradies und ein Leben nach dem Tod überhaupt gibt und verweist nur auf die Hoffnung, die man haben kann und die tröstlich sein kann. Das ist sehr realistisch. Die Orgelmusik ist sehr schön. Lambert Kleesattel spielt, der nur wenig älter als ich ist und vor ewigen Zeiten, als ich im örtlichen Jugendchor war, auch manchmal an der Orgel saß. Damals hieß es immer schon ehrfürchtig: „Lambert Kleesattel spielt“ und er hatte die Aura eines Orgel-Wunderkindes um sich. Ich freue mich, dass ich ihn unerwartet nochmal an der Orgel erlebe.

Nach der Trauerfeier gibt es noch die traditionelle Einladung zu Kaffee, Brötchen und Suppe in ein Restaurant. Da die verstorbene Nachbarin schon über neunzig und seit einigen Jahren sehr krank war, ist die Stimmung nicht bedrückt, sondern voll mit Liebe und Erleichterung. Um 14 Uhr komme ich mit meinem Vater zurück und er ist völlig erschöpft und muss sich erstmal hinlegen. Inzwischen ist die Nachricht gekommen, dass die Ukrainerin zwischen 19 und 20 Uhr kommt und die bisherige Pflegekraft um 17 Uhr abgeholt wird. Na, super. Da muss ich am Abend dann doch alles alleine erklären. Dabei weiß ich doch selber nicht, wie und wo mein Vater gewaschen wird, welche Creme er braucht und ob ihm der Schlafanzug gleich nach dem Abendessen oder erst vor dem Schlafengehen angezogen wird. VOR dem Abendessen bekommt er den Schlafanzug angezogen, erfahre ich zu meiner Überraschung. Im Schnelldurchlauf gehe ich noch Details durch und mache schnelle Notizen und Fotos, um sie weitergeben zu können.

Pünktlich um 17 Uhr kommt der polnische Abhol-Bus und ich bleibe mit meinem Vater alleine. Noch etwa zwei Stunden bis die „Neue“ kommt, denke ich. Es wird 19 Uhr, es wird 20 Uhr. Dann 21, dann 22. Mein Vater, der seine neue Betreuung unbedingt noch kennenlernen wollte, ist inzwischen so müde, dass ich ihn ins Bett bringe. Und jetzt? Ich kann meinen Vater nicht alleine lassen. Außerdem kann der Bus ja noch irgendwann kommen. Ach, menno! Am nächsten Morgen muss ich um 7 Uhr schon wieder bei meinem Vater sein, weil die Split-Klimaanlage eingebaut wird, da lohnt sich das Nachhausefahren ja kaum noch. Eine Übernachtung habe ich aber nicht eingeplant. Es wird 23 Uhr. Seufzend suche ich mir im Schrank einen Schlafanzug von meinem Vater, der etwas kurz, aber tragbar ist, und hole mir eine Decke und ein Kissen. Das frühere Ehebett steht leer und wenn bis Mitternacht niemand angekommen ist, werde ich da heute Nacht schlafen. Schlafen müssen, weil es nicht anders geht.
Um 00:01 Uhr lege ich mich übermüdet hin und lösche das Licht. Oh, Mann, wie doof das alles ist! Vier Minuten später klingelt es an der Tür. Ich springe auf und empfange die neue ukrainische Betreuungskraft im zu kurzen Schlafanzug. Sie ist völlig erschöpft und sagt mit wenigen deutschen Worten und Finger-Gemale in der Luft, dass sie seit 17 Stunden unterwegs ist. Sie möchte nichts essen und nichts trinken, sondern gerne schlafen. Kein Problem. Ich erkläre ihr kurz, dass mein Vater um 7:30 Uhr aufstehen muss, weil er zur Senioren-Tagespflege geht, und sie bis dahin Zeit hat. Alles andere können wir danach bereden. Sie huscht ins Badezimmer und von dort in ihr Zimmer, und ich lege mich ins alte Elternschlafzimmer.
Mein Schlaf ist unruhig und zu wenig, aber immerhin schlafe ich etwas. Etwas müde stehe ich um 6:30 Uhr auf und koche Kaffee. Die neue Betreuungskraft wird etwas später wach und es stellt sich heraus, dass sie keine Ukrainerin ist und überhaupt kein Ukrainisch spricht. Sie kann aber sehr gut Polnisch und Russisch, wenig Deutsch und nur sehr wenig Englisch. In den Unterlagen, die ich über sie bekommen habe, steht das anders. Außerdem steht da, dass sie 51 Jahre alt ist, aber vor mir steht eine etwa 35-jährige, junge Frau. Ich frage sicherheitshalber nach dem Vornamen, aber der stimmt. Anscheinend wurde keine falsche Frau aus dem Bus geschickt.
Wir wecken meinen Vater, die beiden lernen sich sofort intensiv kennen, als sie ihn wäscht und anzieht. Es klappt sehr gut. Er trinkt noch einen Kaffee, die Betreuung isst einen Toast mit Schinken und ich bin etwas verwundert, dass eine so zierliche Person mit so großen Bissen isst, dann sehe ich pünktlich den Kleinbus der Tagespflege vor der Türe halten. Mein Vater geht mühsam am Rollator raus und bis zum Bus. Erst als wir davorstehen, sehe ich, dass es der Transporter der Klimafirma ist. Die beiden Klimaleute finden lustig, dass ich das verwechselt habe. Während sie die ersten Sachen ausladen und ins Wohnzimmer bringen, warten wir an der Straße auf den Seniorenbus, der zehn Minuten später kommt.
Es wird ein trubeliger Tag. Ich zeige der sehr netten und sympathischen Betreuung das Haus, den Inhalt der Schränke und erkläre anhand der deutsch-polnisch-ukrainischen Listen – die sie großartig findet und immer wieder liest und mit Details beschriftet – den Tagesablauf. Währenddessen laufen die beiden Handwerker herum und bauen, teils mir Gebohre und Gehämmer, die Klimaanlage ein. Wie gut, dass mein Vater heute in der Tagespflege ist und nicht noch zwischendrin sitzt und den Fernseher laut gestellt hat. Gegen 11 Uhr spreche ich mit der Pflegekraft ab, dass wir jetzt zusammen einkaufen fahren können. Während sie sich umzieht, sage ich dem Handwerker und seinem Gehilfen, dass wir eine knappe Stunde weg sein werden. Aber dann kommt die Betreuung nicht mehr aus ihrem Zimmer. Ich vermute, dass sie eingeschlafen ist. Soll sie ruhig, sie sah immer noch sehr erschöpft aus. Die Handwerker bohren weiter Löcher in die Wand, sie schläft.

Um 14 Uhr ist die neue Heizungs-Klimaanlage eingebaut und läuft. Die Handwerker säubern alles gründlich und fahren. Super Firma, super Arbeit. Private Empfehlung: Wer im Raum Köln-Bonn eine Klimaanlage braucht, sollte nach Klimatechnik Krüger googeln. Ich stelle den Rest vom gestrigen Mittagessen in die Mikrowelle und überlege, ob ich die Betreuung wecken soll, denn wir müssen noch einkaufen fahren, ehe mein Vater zurückkommt. In dem Moment steht sie auf. Auf meine Frage, ob sie essen möchte, nickt sie sofort. Erstaunlicherweise nimmt sie sich auch jetzt eine recht große Portion auf den Teller und isst mit sichtlichem Genuss. Das ist angesichts ihrer Figur wirklich verwunderlich. Wir unterhalten uns, was recht gut klappt. Sie versteht ganz gut und spricht auch besser als erwartet. Mangelnde Sprachkenntnisse ersetzt sie durch Aufmerksamkeit, Empathie und Humor. Das wird gut funktionieren, denke ich.
Schließlich greift sie zum Handy, spricht etwas länger polnisch hinein und lacht dabei oft amüsiert auf. Sie lässt es für mich in einen deutschen Text übersetzen und ich erwarte, eine lustige Geschichte zu lesen. Doch dann steht da, dass sie bis gestern drei Wochen als Betreuung bei einem Ehepaar war und dort immer Hunger hatte, weil sie nur einmal am Tag ein kleines Mittagessen haben durfte und danach die Küche abgeschlossen wurde. Weil der nächste Ort sechs Kilometer entfernt war und kein Geschäft hatte, konnte sie sich nichts selber kaufen. Während ich es lese, lacht sie weiter und ich verstehe jetzt, dass es auch für sie kaum zu fassen ist, dass ihr das passiert ist. Sie schreibt weiter, dass sie sich gerade so über das Essen gefreut hat, weil sie sich endlich wieder sattessen konnte. Ich bin entsetzt und versichere ihr, dass sie bei uns jederzeit essen kann. Puh! Von Betreuungskräften, die nicht am Tisch mitessen, sich nicht auf das Sofa setzen dürfen oder für sich selber ein minderwertigeres Essen kochen müssen, habe ich schon gehört. Aber einer Arbeitskraft nur eine Mahlzeit am Tag zu erlauben, das müsste man ja schon anzeigen können. Die Frauen sind weit weg von Zuhause, bekommen für ihre nicht immer einfache Arbeit kein riesiges Gehalt und werden bei einigen Arbeitsstellen dann so schlecht behandelt. Unfassbar!
Weil es bei den Angaben ihrer Agentur so viele Fehler gab und auch das Alter nicht stimmen kann, spreche ich sie auf die angegebenen 51 Jahre an. Sie lacht sehr belustigt auf und schüttelt kichernd den Kopf. Mit dem Finger malt sie die Zahl auf den Tisch, die ihr tatsächliches Alter zeigt. Eine Fünf und eine Null. 50. Was?? Sie sieht wirklich nicht älter als 35 aus. Dass sie wegen dem einen Jahr Unterschied so lachen muss, ist verwirrend. Aber sie lacht gerne und ich finde sie sehr nett.
Wir fahren schnell zusammen einkaufen – auch da zeigt sie sich preisbewusst und zurückhaltend -, und kaum sind wir zurück, wird schon mein Vater gebracht. Die nächsten vier Stunden verbringen wir noch zu dritt, nach dem Abendessen fahre ich nach Hause. Mein Vater und die Nicht-Ukrainerin verstehen sich auch mit schmalen Sprachkenntnissen gut und das Ins-Bett-bringen wird kein Problem machen. Am Mittwochmorgen morgen, um 8:30 Uhr bin ich losgefahren, am Donnerstagabend komme ich um 19:15 Uhr nach Hause. 35 Stunden Einsatz, zwei ganze Tage und eine Nacht.
Am nächsten Tag fahre ich zusammen mit dem Gatten schon wieder zu meinem Vater, um die Klima-Heizung per App einzustellen und meinem Vater und der Betreuung die Bedienung zu erklären. Ich erfahre, dass mein Vater die neue Betreuungskraft schon um 6:45 Uhr aus dem Bett geklingelt hat, weil er wach war und nicht sicher war, ob sie schon wusste, dass sie rechtzeitig Frühstück machen muss. Ich weise ihn darauf hin, dass sie weiß, dass es um 8 Uhr Frühstück gibt und dass er zu so frühen Zeiten entweder zurück ins Bett gehen soll, bis sie ihn weckt, oder sich in seinen Sessel setzen und Fernsehen gucken, bis sie aufsteht. Er grinst: „Ich habe mir auch schon gedacht, dass es etwas früh sein könnte.“ Tja, hätte er mal lieber weiterüberlegen sollen. Ich beruhige die verunsicherte Pflegekraft und bestätige, dass mein Vater üblicherweise um 8 Uhr frühstückt, sie alles richtig gemacht hat und er sie nicht einfach aus dem Bett klingeln soll.
Am Samstag mache ich langsam. Bloß keinen Stress! Vom Gefühl her hatte ich eine sehr kurze Woche, die trotzdem mindestens zwölf Tage lang war. Da ist jetzt irgendetwas mit meinem Zeitgefühl gestört. Aber die Klimaanlagen-Heizung ist eingebaut und funktioniert und die neue Betreuungskraft ist da und scheint zu passen. Das ist doch alles gut.