Blog 846 – 14.07.2024 – Zähne, Augen und Mechtild Nienaber
Am Sonntag humple ich noch wegen des schmerzhaft angeschlagenen kleinen Zehs mühsam herum, am Montagmorgen kann ich den Fuß zumindest vorsichtig in einen Schuh pressen. Es bleibt schmerzhaft, aber ich kann nach Bochum fahren, wo im Figurentheater-Kolleg der fünftägige Kurs „Das genähte Gesicht“ bei Mechtild Nienaber beginnt. In dieser Woche findet dort auch ein Clownskurs statt und bei Jürgen Maaßen werden Holzköpfe geschnitzt. Das Haus ist voll.
Mechtild Nienaber baut und näht wunderbare Theaterfiguren. Sie gibt nur selten mal einen Kurs, und ich bin sehr froh, dass ich die Möglichkeit habe, einen Einblick in ihre Arbeitsweise zu bekommen. Ebenfalls froh sind Daniela und Monika aus der Schweiz, mit denen ich seit Jahren häufig ein dreiblätteriges Kleeblatt in einem Bochum-Kurs bin. Wir drei haben viel Spaß zusammen und knüpfen immer wieder problemlos da an, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben. In diesem Jahr sind wir sogar ein vierblättriges Kleeblatt, denn Katy, ebenfalls vertraut und befreundet, ist auch dabei. Für mich überraschend ist auch Marion da, mit der ich auch eine schöne Verbindung habe, und die mit meiner Klappmaul-Livehand-Mädchenpuppe eine Kochshow für Kinder spielt. Insgesamt zehn Teilnehmerinnen sitzen im Kurs, und zu unser aller Glück ist auch Mechtild da, ohne die der ganze Kurs ja ziemlich fraglich wäre.
Mechtild Nienaber kenne ich bisher nur von Fotos, aber ich erkenne sie auch in echt sofort. Dabei helfen ihre roten Locken, die sofort auffallen. Das heißt aber nicht, dass sie auch sonst sofort auffallen möchte. Sie ist eher leise und beobachtend und sieht sich selber gar nicht als die ehrfürchtig bestaunte Figurenbau-Star-Künstlerin, als die wir Teilnehmerinnen sie sehen. Eine sensible Figurenbauerin, die sich Zeit für ihre Geschöpfe nimmt und sie sorgsam entstehen lässt. Ich gehe mit großem Respekt an ihre Art zu bauen und bin mir nicht sicher, ob ich das auch nur annähernd hinbekomme. Es ist mehr als Bauen und Zusammensetzen.
Unser Einstieg in das genähte Gesicht beginnt mit einer Skizze des gewünschten Kopfes. Wir mühen uns mal mehr, mal weniger ab und ich ahne dabei nicht, dass ich mich später immer weiter von der Skizze entfernen werde und deswegen jetzt gar nicht so auf Details achten müsste. Einen Schaumstoffkern schnitzen kann ich immerhin, das ist mir vertraut.
Dann geht es an einen Vliesüberzug, der an den ersten Stellen mit angenähten Stofflappen definiert und gefestigt wird. Für mich ist das ganz ungewohnt, zumal ich noch kein Gefühl dafür habe, wie dick das Vlies sein sollte und wie fest ich es zusammendrücken und nähen darf. „Ich kann es ja wieder abtrennen“, beruhige ich mich, wenn ich nicht sicher bin, ob ich gerade eine richtige Entscheidung treffe. Ich weiß nur ungefähr, wo das Ziel liegt, und nicht, was ich auf dem Weg dorthin dringend beachten muss.
Mechtild selber hat für uns kein klares Konzept für eine Anleitung zum Kopfgestalten. Das verunsichert uns zunächst. Es gibt keine Anweisungen, keinen Ablaufplan, kein „Jetzt klebst du das an, danach legst du ein Stück Stoff genau an die rechte Kante und nähst es an.“ Das liegt zum einen daran, dass für sie viele Schritte so selbstverständlich sind, dass sie über die gar nicht mehr nachdenkt, zum anderen, weil sie selber so baut, dass es keine Regeln, keine starren Abläufe und keinen festen Weg gibt. Sie lässt sich nicht in ein Konzept zwängen und will auch anderen nicht vorsetzen, was sie machen sollen. Stattdessen möchte sie von jeder Teilnehmerin bei Unsicherheiten gerufen werden, sieht sich den betreffenden Kopf an und schlägt vor, was in diesem Fall, bei genau diesem Kopf – eventuell – gemacht werden könnte. Es gibt viele Wege zum fertigen Gesicht und nicht nur den einen richtigen. Ausprobieren, betrachten, aus dem Gefühl heraus erkennen, wie es weitergehen könnte. Es geht nicht um Perfektion und unsichtbare Nähte. Das ist der Grund, warum ihre Figuren so lebendig, verletzlich und emotional berührend sind.
Am Abend habe ich schon einige Stoffstücke vernäht und finde plötzlich, dass ich schon ganz schön weit gekommen bin. Es ist ja gerade mal der erste Kurstag vorbei. Da könnte ich, wenn der Kopf fertig ist, doch auch noch Hände machen. Wie man so denkt, wenn man keine Ahnung hat und den Weg nicht kennt.
Am zweiten Kurstag stecke ich noch Stoff, da erwähnt Mechtild plötzlich Zähne. Zähne? Das ist in meiner Skizze nicht vorgesehen. „Egal“, meint Mechtild, „Zähne sollten schon sein. Auch wenn sie nachher nicht zu sehen sind.“ Spontan finde ich, dass eingebaute Zähne und ein leicht geöffneter Mund toll sind. Nur bei meiner bisherigen Art von Klappmaulpuppen passen sie meistens nicht und sehen nach „zu viel“ aus. Und meine Skizze? Ein auch nur leicht geöffneter Mund sieht sehr anders als ein geschlossener aus. Aber ich möchte mich ja gerne auf diese Art des Bauens einlassen und Neues entdecken. Also auch Zähne.
Stoffstückchen für Stoffstückchen entsteht ein Gesicht. Ich stecke, probiere Vernähungen und Fadenstraffungen quer durch den Kopf und weitere Auspolsterungen mit Vlies. Jede Aktion verändert den Gesichtsausdruck. Faszinierend. Mechtild hat genügend Material, alle wichtigen Hilfsmittel und Farben zur freien Benutzung dabei. Sehr hilfreich ist eine Aterienklemme, allerdings nicht für Aterien. Ich setze Pupillen in Holzkugeln ein, bemale die Kugeln mit Irissen und bin entzückt über das Ergebnis. Oh, was für schöne Augen es mit ihrer Methode gibt! Ich glaube, ich will keine anderen mehr machen.
Plötzlich ist der zweite Tag vorbei und das Gesicht hat zwar Zähne und Augen, ist aber nicht entscheidend weiter vernäht. Oh, das fühlt sich fast wie Stillstand an.
Mechtild Nienaber ist ein toller Mensch. Zart, ruhig und leise. Die sensiblen, an die Seele gehenden Puppen, die sie macht, passen zu ihr. Dabei ist sie sehr natürlich und humorvoll. Manchmal lacht sie bei lustigen Sachen unerwartet laut und tief kehlig auf, was in mir die Vermutung auslöst, dass sie einen inneren Bauarbeiter in sich hat. Vermutlich viel Kraft. Sie ist immer ansprechbar und immer bereit, Fragen zu beantworten – falls sie denn einfach zu beantworten sind. Dann nimmt sie den genähten Kopf in die Hände, dreht ihn langsam, betrachtet ihn von allen Seiten und schlägt vor, wo noch aufgefüllt, gestrafft oder mit einer weiteren Vernähung geändert werden … könnte. Es bleibt, wie es ihre innere Grundeinstellung ist, beim: „Du könntest jetzt auch versuchen, dieses zu machen. Vielleicht. Oder du versuchst das. Probier doch einfach mal!“ Ihre Tipps helfen sehr, aber sie gibt niemals eine Anweisung. Als sie bei einem Bauschritt gefragt wird, ob es da Regeln in der Reihenfolge gibt, beginnt sie ernsthaft: „Also, Regel Eins …“ und nicht nur sie, wir alle lachen los. Regeln und Mechtild – das passt einfach nicht.
Inzwischen hätte ich große Lust, die letzte Lage des Gesichtes aus vielen angesetzten Stoffstücken mit vielen sichtbaren Nähten zu gestalten. Weil das Vernähen mit einem großen Stück Stoff aber schwieriger ist, wähle ich das. Wieder ändert sich der Gesichtsausdruck mit jedem Stecken, Vernähen und Ziehen des Stoffes. Die Skizze ist mir aber inzwischen egal. Ich habe nur noch drei Tage Zeit und möchte lieber den Vorgang lernen, als mit Gewalt in eine optische Richtung zu arbeiten.
Am vierten Kurstag sitze ich am späten Abend alleine im Raum, nähe an Augenlidern und Ohren und sehe mir dazu die Dokumentation von Maybebop „Vier Typen. Vier Mikrofone. Sonst nichts …“ an. Ich finde es total gemütlich. Draußen ist es dunkel, im Haus lachen und schreien keine Clowns mehr laut auf, in der Werkstatt schleift die Schleifmaschine keine Schnitzmesser mehr, nur die Geschichte der Maybebopper läuft mit kurzen Musikbeispielen. Während des Zusehens erinnere ich mich an frühere Dokumentationen, die ich selber über die Wise Guys gemacht habe, sehe Ähnlichkeiten und denke lächelnd an die Zeit. Außerdem versuche ich mich zu erinnern, wann ich Maybebop nach einem Wise Guys Konzert kurz kennengelernt habe. 2001? 2002? Weil da Jan und Sebastian dabei gewesen sind, muss das, wie ich jetzt in der Dokumentation erkenne, wohl mindestens 2003 gewesen sein. Ich sitze zuhörend, zurückerinnernd und nähend im Kolleg, bin gleichzeitig in einer früheren Zeit und im Hier und Jetzt. Um 1 Uhr gehe ich schlafen, eher aus Vernunftgründen als aus Müdigkeit. Ich bin in der ruhigen, entspannten Zeit aber auch ganz schön weitergekommen.
Der nächste Tag ist der letzte Kurstag und ich möchte noch möglichst viel fertigbekommen. Vor allem, um alle Schritte bis zur Fertigstellung mal gemacht zu haben, so dass ich bei der nächsten Figur, die ich auf diese Art mache, weiß, wie es geht. Also zumindest einen der möglichen Wege kennengelernt habe. An das Nähen von Händen denke ich gar nicht mehr, die Zeit würde nicht reichen. Ich gebe Farbe in das Gesicht, klebe Augen und einzelne Stellen im Gesicht und nähe Haare an. Tadaa! Mein erstes genähtes Gesicht. Ich sehe Stellen, die ich nicht so gelungen finde und weiß, was ich beim nächsten Mal anders machen würde, aber das Ergebnis freut mich schon. Meine Hochachtung für die Arbeit von Mechtild steigt gleichzeitig noch höher.
Plötzlich stocke ich. Irgendwie kommt mir mein genähtes Gesicht bekannt vor. Aber ich hatte doch gar kein bestimmtes Ziel … Dann erkenne ich, wer mich anguckt: Der junge Boris Becker! Oh, nein!! Wie kommt der denn da rein? Den will ich auf keinen Fall haben! Vielleicht ist es ja auch seine Tochter, aber auch die will ich nicht! Wenn ich doch nur eine andere Haar- und Augenfarbe gewählt und den Mund etwas mehr geschlossen hätte! Ach, Quatsch. Es ist einfach ein neugieriges Mädchen.
Was für ein toller Kurs! Ich fühle mich sehr dankbar, dass ich ihn mitmachen konnte. Die Erfahrung, dass es nicht perfekt sein soll und dass ein langsames, aufbauendes Gestalten in vielen Schritten am Ende ein so lebendiges Gesicht schafft, wird mich weiter begleiten. Ich würde gerne gleich noch einen Kurs bei Mechtild machen und nochmal von vorne beginnen.
Wie schade, dass meine Schweizerinnen wieder wegfahren und wir nicht wissen, wann der nächste gemeinsame Kurs gemacht werden kann. Es wäre schön, wenn sich im nächsten Jahr wieder etwas ergeben würde. Auf der Rückfahrt fahre ich durch Köln und da treffen sich meine alte und meine neue Welt. Im Auto höre ich die alte „Live“-CD der Wise Guys und singe fröhlich mit. Als ich dabei durch Klettenberg fahre, wo früher mal alle Wise Guys recht nah um das Büro herum wohnten, ist sofort die alte Zeit präsent. Gleichzeitig habe ich noch die Maybebop-Dokumentation vom gemütlichen Vorabend im Kopf, bei der es Parallelen zu den Wise Guys gab. Die Wise Guys gibt es nicht mehr, aber Maybebop-Konzerte gehören zu meinem jetzigen Leben. Im Gepäck habe ich den neuen Puppenkopf, den ich im Kurs von Mechtild gemacht habe. Ich finde, das ist alles sehr ausgeglichen und passt gut zusammen.
Zuhause erwartet mich mein endlich angeliefertes Rudergerät, das ich an diesem Wochenende komplett zusammenbauen werde. In der nächsten Woche werde ich mit plätscherndem Wassergeräusch vor mich hinrudern können. Ich freue mich. Nur mein Zeh schmerzt immer noch und ist angeschwollen, aber auch der wird mit jedem Tag besser.