Blog 864 – 17.11.2024 – Extrem-Homepaging, Klima und Aktivraum
Am Montagmittag – ich sitze gerade konzentriert an der Bearbeitung eines Konzertberichtes – ruft die polnische Betreuungskraft meines Vaters in leichter Panik an. Als sie gerade vom Einkaufen zurückkam, stand der Reißverschluss ihrer Tasche stand offen und ihr Handy fehlt. Auf dem sind alle privaten Fotos der letzten Jahre und alle ihre Telefonnummern. Sie weiß nur ihre eigene Handynummer auswendig, die einzige, die sie jetzt nicht wissen muss. Ich schicke sie zurück auf den Einkaufsweg und in die Geschäfte, wo sie gucken und fragen soll, ob jemand ihr Handy gefunden hat und fahre sofort los, um eine halbe Stunde später bei meinem Vater zu sein. Bis dahin müsste er noch schlafen.
Unterwegs überlege ich, wie wir an Telefonnummern ihrer Familie kommen können und dass sie vorerst das Festnetztelefon meines Vaters in ihr Zimmer bekommen könnte, damit sie telefonieren kann. Pläne über Pläne. Als ich bei meinem Vater ankomme, höre ich sie in der Küche werkeln und sehe ihr Handy auf dem Tisch liegen. „Jessus Maria“, kommt sie erleichtert um die Ecke und berichtet, dass jemand ihr Handy auf der Treppe vor einem Geschäft gefunden und im Laden abgegeben hat und sie gerade damit zurückgekommen ist. Was für ein Glück!
Etwas später fahre ich wieder nach Hause. Ist jetzt blöd, dass ich damit knapp zwei Stunden freie Zeit verbraucht habe, aber ich hätte sie in dieser Lage nicht alleine lassen wollen. Schön ist, dass alles wieder in Ordnung ist und ich mich nicht noch stundenlang mit dem Fundbüro, der Internetsuche nach Telefonnummern und den Kauf eines neuen Handys beschäftigen muss. Nochmal Glück gehabt.
Bei Lidl gibt es „Rettertüten“ mit Lebensmitteln, die kurz vor dem Aussortieren sind. Ich suche mir eine mit für mich passendem Inhalt aus, bezahle 3 Euro und bin sehr zufrieden. Gute Idee, diese Rettertüte, und alles zu gebrauchen.
Am Mittwoch bin ich wie immer bei meinem Vater. Zum ersten Mal seit Wochen ist nur mäßig zu tun. Nach dem Mittagessen, während mein Vater schläft, fahre ich mit Aleksandra einkaufen. Ich gehe selber schon nicht sehr begeistert einkaufen, finde es aber ganz scheußlich, wenn ich beim Einkaufen nur mitgehe und dann in den Supermärkten herumlungern und die Zeit totschlagen muss, bis meine Begleitung fertig eingekauft hat. Aber es geht ja nicht anders. Immerhin komme ich dann endlich mal dazu, alle Angebote im Schlendergang dreimal abzugehen und die Beschriftungen aller Gewürzdosen zu lesen.
Nichts zu tun macht mich noch müder als eine To-do-Liste und viel Arbeit zu haben. Draußen im Garten ist es nieselig und kühl, da habe ich keine Lust, irgendwas zu rupfen oder zu harken. Ich schraube dem Rasenroboter neue Klingen ein und verpacke ihn winterfest in seinen Karton. Und ich gähne viel. Nee, dann doch lieber viel erledigen müssen.
Am nächsten Tag bereite ich eine Lesung vor. An der heimischen Grundschule ist Vorlesetag und ich habe mir Michael Endes „Wunschpunsch“ gewählt. In der Geschichte geht es erschreckend aktuell zu, das wusste ich gar nicht mehr: Der Zauberer Irrwitzer hat sein jährliches Soll an Übeltaten nicht erfüllt. Laut Vertrag muss er in jedem Jahr zehn Tierarten ausrotten, gleich ob Schmetterlinge, Fische oder Säugetiere, fünf Flüsse vergiften, oder fünfmal ein und denselben Fluss, mindestens zehntausend Bäume zum Absterben bringen, jährlich mindestens eine neue Seuche in die Welt setzen, an der Menschen oder Tiere oder auch beide zugleich krepieren, und das Klima des Landes so manipulieren, dass die Jahreszeiten durcheinandergeraten und entweder Dürreperioden oder Überschwemmungen entstehen.“ Das hat Michael Ende 1989 geschrieben! Ja, da gab es tatsächlich schon Informationen und Prognosen zum Klimawandel, aber das hat kaum jemand richtig ernst genommen. Es schien so weit weg und so unwahrscheinlich. Anscheinend erfüllt Herr Irrwitzer seinen Vertrag inzwischen mehr als sorgfältig.
Für die Lesung ist es schön, dass es nicht nur um Umwelt- und Klimaschäden geht, – in dieser Realität leben die Grundschulkinder von heute sowieso -, sondern es auch ausgeprägte Charaktere und lustige Dialoge gibt. Ich kürze, suche passende Stellen zusammen und lese zur Probe. Ja, passt.
Allerdings stelle ich auch fest, dass ich das Buch als gut und spannend in Erinnerung habe, es mir inzwischen aber gar nicht mehr so sehr gefällt. Da hat Herr Ende nach meinem Geschmack dann doch mit deutlich zu erhobenem Zeigefinger geschrieben. Außerdem kommt ein für die Geschichte völlig unpassendes „Büchernörgele“ vor, das mich sehr an Marcel Reich-Ranitzki erinnert. Später lese ich, dass Michael Ende auch Literatur für Erwachsene schreiben wollte, aber nicht erfolgreich damit war. Marcel Reich-Ranitzki wollte nicht mal über Michael Ende als Autor reden, was ihn wohl dazu veranlasste, ein bisschen nachzutreten. Schade. Vor allem, weil das „Büchernörgele“ ein Fremdkörper in der Wunschpunschgeschichte bleibt und komplett überflüssig ist. „Kill your darlings“, habe ich beim Inszenierungskurs gelernt. Und: Was die Geschichte nicht weiterbringt, muss raus. Stimmt.
Am Freitagmorgen laufe ich zur Grundschule und bin anscheinend etwas spät, denn auf dem Weg werde ich von sehr vielen Schulkindern auf Rollern überholt. Früher waren Roller – damals noch mit Luftbereifung – völlig normal, dann waren sie jahrzehntelang für Schulkinder out und höchstens bei Kindergartenkindern angesagt, jetzt sind sie wieder total in. Wer cool ist, fährt Roller.
In der Schule verteilen sich die Kinder auf die Vorlesegruppen, die sie vorher wählen durften und für die sie eine Eintrittskarte haben. Ich betrete mit meiner Gruppe das Nebengebäude. Kaum sind wir drin, ruft eine schmale, kleine Drittklässlerin freudig: „Oh, hier sind die Räume von der Betreuung!“ Ihr Mitschüler erkundigt sich: „Gehst du da hin?“ Das Mädchen erklärt: „Nein, nicht mehr.“ Dann atmet sie tief die Luft des Treppenhauses ein und sagt verträumt und in leidenschaftlicher Erinnerung: „Das hier war meine Kindheit.“
Die Lesung findet im Aktivraum statt, der mit Matten ausgelegt ist und nicht nur Kletter- und Sportgeräte, sondern in der Ecke auch einen Korb mit Bällen hat. Vier der Jungs sind Fußballspieler und würden lieber Fußball spielen als vorgelesen zu bekommen. Ich muss das Lesen tatsächlich mehrfach unterbrechen und sie darauf hinweisen, dass sie sich auf den Matten nicht immer in neuen Positionen hinlegen und auch nicht herumrutschen sollen, weil das laut ist, und muss ihre Frage, ob sie sich die Bälle holen dürfen, entschieden verneinen. Fußballkinder ruhig in einen Aktivraum zu setzen, ist schwierig. Sie sind gar nicht uninteressiert an der Geschichte, sie würden nur lieber rennen und die Bälle aufs Tor schießen. Währenddessen könnte ich auch vorlesen. Zum Glück hören die anderen Kinder aufmerksam zu und halten sogar ihre lauten Kollegen in Schach, weil sie sich von deren Unruhe gestört fühlen. Es läuft alles OK, ist aber dennoch etwas anstrengend, weil ich vor allem einen der Jungs immer im Blick haben muss, eher er Unsinn macht. Aber die Zeit ist ja schnell um und die Textlänge passt.
Es bleiben drei Minuten, in denen ich die Kinder noch kurz den Aktivraum nutzen lasse. Beim anschließenden Schuheanziehen kann einer der Jungs es nicht fassen, dass ich auf seine Frage: „Was ist dein Lieblingsverein? München? Dortmund?“ „Keiner. Fußball interessiert mich gar nicht“ antworte. Unruhig fragt er: „Aber beim Länderspiel? Deutschland, oder?“ „Ach, das ist mir egal“, antworte ich. „Wenn Deutschland gut spielt, kann es gerne gewinnen, aber wenn nicht, egal. Ich gucke das meistens nicht.“ Er starrt mich mit großen Augen an. Wie kann es Leute geben, die sich nicht für Fußball interessieren?
Ansonsten heißt die Woche: Extrem-Homepaging. Ich verbringe meine Zeit weitgehend vor dem Computer, um immer noch Berichte von der alten auf die neue Homepage zu übertragen. Dabei fällt mir auf, dass in den alten Berichten oft noch doppelte S und scharfe ß nach der alten Rechtschreibung stehen und ich heute manche Sätze anders formulieren würde. Damit dauert das Überarbeiten noch länger. Als ich an einer Stelle das Wort „Schweinwerfer“ lese, dass seit fast zwanzig Jahren so im Bericht steht, ohne dass mir das jemals aufgefallen ist, muss ich lachen. Schweinwerfer – wie schön. Ich ändere es trotzdem.
Es ist schon erstaunlich, wie alt manche Berichte sind. Ich mag es sehr, wieder reinzulesen und in die Zeit einzutauchen. Auf einem Foto lachen Jess Jochimsen und Horst Evers bei einem Vorleserabend. Die Szene fand 2002 im Pantheon statt – vor 22 Jahren! Es ist nicht zu fassen. Sieht doch aus wie gestern.
Insgesamt merke ich, dass ich wieder öfter Berichte schreiben möchte. Das ist in den letzten Jahren aus Zeitgründen oft zu kurz gekommen, aber das sollte ich unbedingt wieder aktivieren. Wegen des Extrem-Homepagings und des stundenlangen Arbeitens bin ich zwar jetzt etwas steif im Rücken, werde aber bald fertig sein. Dann kann die neu gestaltete Homepage ins Netz und ich kann – nach mehr als einem Jahr, in dem ich keinen Zugriff mehr auf meine eigene Homepage hatte, – auch wieder aktuelle Berichte einstellen.