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Blog 809 – 29.10.2022 – Kirschbaum, Auto, Corona, Friedemann und Rainald

Zu Beginn der Woche grabe ich ein Loch. Die vorher dort wachsenden Bodendecker und einiges Kleinzeugs hacke ich weg, denn an diese Stelle soll ein Kirschbaum kommen, und zwar die schwarze Knorpelkirsche.

Bevor in den 50er-Jahren Häuser an diesen Hang gebaut wurden, standen dort sehr viele Kirschbäume. Zwei davon hatten wir früher noch im Garten. Weil sie alt und morsch wurden, mussten wir sie in den vergangenen Jahren absägen. Jetzt finde ich, dass der Garten unbedingt wieder einen Kirschbaum braucht. Ein Exemplar, das ich vor wenigen Jahren mal spontan aus einem Baumarkt-Gartencenter mitbrachte, hat leider keine gute Qualität und jetzt schon Probleme mit der Wuchsform und der Rinde. Darum soll der neue Kirschbaum aus einer guten Baumschule kommen. Ein gebildeter Baum, der weiß, worauf es ankommt.

Am liebsten würde ich sofort nach dem Lochbuddeln losfahren und einen Baum holen, denn das Wetter ist gerade gut für eine Herbstpflanzung. Der Gatte merkt an, dass ich am Mittwoch bei meinem Vater bin und es sprit- und energietechnisch günstiger wäre, wenn ich von dort aus zur Baumschule fahren würde. Stimmt leider. Oh, menno, ich möchte gerne sofort, aber dann warte ich eben bis Mittwoch.

In letzter Zeit habe ziemlich viel zu tun. Ich fahre hin und her – oft längere Strecken -, muss einige Sachen und verschiedene Termine für meinen Vater organisieren und habe mehrere größere Aufräum- oder Renovierarbeiten, die ich aus Zeitgründen immer wieder vor mir herschiebe und die dadurch immer mächtiger erscheinen. Auch das Kellermusikstudio ist nach dem Wasserschaden vor zwei Jahren und der anschließenden Wasserleitungserneuerung immer noch vollgestellt und nicht zu benutzen. Da ich seit meinem Burnout vor vielen Jahren deutlich auf Pausen achte, mache ich die auch, aber dadurch erledigen sich eben auch die wartenden Arbeiten nicht.

Dazu kommen jetzt die Theaterproben, die mir Spaß machen, aber auch Zeit kosten. Ist das Theaterspielen nun reine Freizeit oder doch ein To-do-Punkt auf der Liste, der anderes blockiert? Nee, das Proben und Zusammensein mit der Gruppe lachender und engagierter Leute ist schon klasse und tut mir gut. Blöd für mich sind momentan die noch ausstehenden Termine für Probewochenenden und Aufführungswochenenden, die bisher nicht festgelegt werden können und als Masse meinen Kalender blockieren. Aber auch da wird es hoffentlich bald Ergebnisse geben.

Ansonsten läuft es bei den Proben gut an. Ich muss dringend meinen Text lernen, um nicht dauernd ins Heft zu starren. Textlernen ist bei mir allerdings harte Arbeit, denn mein Gehirn ist nicht so auf Auswendiglernen erpicht. Spontane Bemerkungen mag es lieber, aber da müssen wir jetzt gemeinsam durch. Wenn ich den Text einmal kann, ist er dann zum Glück auch da.

Am Mittwoch wache ich mit unangenehmen Kopfschmerzen auf. Den Vormittag über bin ich bei meinem Vater, wechsle die Klingen am Mähroboter und assistiere ihm beim Überweisen, weil das mit der TAN und dem neuen Handy noch zu üben ist. Außerdem steht ein Arztbesuch an, zu dem ich ihn hinfahre und begleite. Danach koche ich Mittagessen für zwei Tage – unter anderem mit einer Aubergine, die er neugierig gekauft hat, aber nicht kennt, und die er gebraten und mit Tomaten geschmort dann doch „laff“ findet, was nicht an meinem Rezept, sondern an der Aubergine liegt. Ich finde es trotzdem klasse, dass er einfach mal einkauft, was ihm gesund erscheint.

Nach dem Mittagessen möchte ich zur Baumschule fahren, um nach meinem Kirschbaum zu gucken. Aber inzwischen regnet es ausdauernd. Ich überlege kurz, ob ich wirklich bei Regen durch eine Baumschule laufen, einen Mitarbeiter zur Beratung nötigen und eventuell einen nassen Baum ins Auto heben möchte – nee. Außerdem habe ich immer noch Kopfschmerzen. Ich verschiebe den Baum auf „vielleicht morgen“ und mache mich auf den Weg nach Hause. Anstatt nach links in Richtung Baumschule, fahre ich nach rechts. Fünf Minuten später fährt mir im Kreisverkehr ein anderes Auto in meins. Ich versuche noch auszuweichen, aber es rumst und knirscht und Autotür und Kotflügel sind geknautscht. Ach, menno! Wäre ich doch besser in die andere Richtung zur Baumschule gefahren!

Dass der Unfallverursacher als erstes besorgt fragt, ob ich verletzt bin, finde ich sehr sympathisch. Er ist sowieso nett und wir sind uns einig über die Sachlage. Unfälle können passieren, und wenn danach alles klar ist und kein Gezicke um die Schuldfrage beginnt, lassen sie sich regeln. Nach der Unfallaufnahme kann ich zwar die Beifahrertür nicht öffnen, das Auto aber in den Nachbarort zur Werkstatt fahren. Ich weiß nicht, ob etwas Stützendes verzogen ist und achte beim Fahren auf Anzeichen, ob es knackt oder knirscht, ein Reifen abfällt, die Achse bricht oder Rauch aus dem Handschuhfach kommt. Ich bin auf alles gefasst. Aber es schleift nichts und das Fahren fühlt sich normal an. Ob ich ein Schild an der eingedellten Beifahrertür anbringen sollte: „Ich bin blond, aber das war ich nicht“?

Als das Auto in der Werkstatt eingecheckt hat, regnet es immer noch. Der normalerweise homeofficende Gatte ist bei seiner Arbeitsstelle in Köln, aber schon auf dem Weg nach Hause. Wir sprechen ab, dass ich loslaufe und er mich unterwegs einsammelt. Ich habe einen Schirm dabei, und eine halbe Stunde im Regen spazierengehen, wird meinem Kopf nur guttun.

Als ich eine halbe Stunde im leichten Dauerregen unterwegs bin, telefoniere ich kurz mit dem Gatten. Er ist immer noch in Köln, weil er überall im Stau steht. Ich laufe weiter. Nach achteinhalb Kilometern und eineinhalb Stunden treffen wir endlich aufeinander. Die halbe Strecke nach Hause habe ich geschafft, den Rest wäre ich auch noch gelaufen.

Am Abend erfahre ich, dass ein Mitspieler von der Montagprobe Corona hat. Kann passieren. Hoffentlich hat sich niemand angesteckt.

Am nächsten Tag habe ich immer noch Kopfschmerzen und fühle mich nicht gut. Habe ich mich vielleicht angesteckt? Meine erste Coronainfektion? Der Kopf ist dumpf, ich lege mich ins Bett und schlafe viel. Für den Abend habe ich eine Karte für die Premiere von Friedemann Weise im Kölner Artheater. Das kann ich vergessen. Abgesehen von einer möglichen Coronainfektion, mit der ich nicht unter Leute gehen sollte, sind die dumpfen Kopfschmerzen keine gute Basis für schnelle Reaktionen auf schräge Bemerkungen. Ach, wie schade. Ich hatte mich wirklich sehr gefreut.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind die Kopfschmerzen weg und ich bin deutlich lebendiger. Auch der Corona-Schnelltest ist negativ. Ich weiß ja inzwischen, dass das nicht zwangsläufig gegen eine Infektion spricht, aber vielleicht war es doch nicht Corona, sondern ich hatte Stresskopfschmerzen und einen kleinen Erkältungsvirus, den mein Immunsystem sofort bekämpft hat? Wenn ich richtig überlege, wäre es auch ziemlich schnell, wenn ich nicht mal zwei Tage nach dem Zusammensein mit einem frisch Coronaerkrankten schon selber sehr erkrankt wäre. Aus Alarmstufe Rot wird Gelb mit starker Tendenz zu Grün.

Am Nachmittag ruft die Werkstatt an. Der Gutachter war da, am Auto ist nichts verzogen, repariert werden kann erst, wenn bei den Versicherungen alles klar ist, was – ganz abgesehen von der vielleicht sehr langen Lieferzeit der Ersatzteile – etwas dauern kann. Wir können das Auto bis dahin abholen. Es sieht rechts vorne etwas geknautscht aus, kann aber fahren. So schnell kann es sich drehen. Von „Corona und kein Auto“ zu „kein Corona und Auto“.

Am Freitag bin ich wieder total fit. Wir holen unser Auto in der Werkstatt ab und ich stelle erfreut fest, dass die Beifahrertür etwas bearbeitet wurde, so dass sie sich beim Öffnen zwar leicht senkt, sich aber immerhin öffnen lässt. Das hebt den Nutzwert des Autos gewaltig, denn dann kann wieder ein Beifahrer mit. Angesichts meines Gesundheitszustandes kommt außerdem leichte Hoffnung auf, dass ich am folgenden Abend nun doch zur Lesung von Rainald Grebe gehen könnte. Die hatte ich schon abgeschrieben, denn mit dem Verdacht auf einen Infekt oder sogar Corona würde ich das nicht tun.

Aber auch am Samstag bin ich völlig gesund. Hurra! Weil die Parkplatzsituation um die Comedia besonders am Samstagabend sehr schwierig ist, fahre ich mit dem Auto zum nächsten Park&Ride Parkplatz und steige in die Bahn. Das ist schon nicht so einfach, denn weil die Bahn davor ausgefallen ist, ist diese nun knackevoll. Ich quetsche mich rein. Weil an jeder Station mehr Leute zu- als aussteigen, wird es immer enger. In Köln strömen die meisten der jüngeren Mitfahrenden in Richtung der Clubs, während ich zur Comedia gehe. Die Lesung von Rainald habe ich vor fast genau einem Jahr schon in Düsseldorf besucht, aber ich freue mich schon wieder darauf.

Der große Saal der Comedia ist ausverkauft. Es ist gerade Comedy-Festival, da passt die Biographie von Rainald, die auch von seinem Aufenthalt in der Reha nach seinen ersten Schlaganfällen erzählt, nicht ganz perfekt rein. Aber Rainald Grebe gilt als „lustig“, und er weiß auch die schwarzen Seiten und die Beklemmung mit satirischem Humor und einer eigenen, spürbaren Neugierde an der Situation zu vermitteln. Dass er jetzt mit von innen strahlenden Augen und vor Energie und Spaß sprühend auf der Bühne ist, freut mich sehr. Er erzählt und erklärt, lacht oft und das Publikum hört zu, lacht mit, klatscht und lässt sich von ihm mitnehmen.

Während seine Stimme beim Erzählen locker und frei ist, wird sie beim Lesen deutlich kratziger und kantiger. Als würde ihn das Ablesen einschränken und ihm unangenehm sein. Die Worte fließen nicht plätschernd, sondern werden Stück für Stück abgelesen. Das Gute: Vor einem Jahr war seine Aussprache beim Lesen noch verwaschener; jetzt ist sie wieder deutlich akzentuierter. Noch besser: Wie schnell, klar und plätschernd er beim sprudeligen Reden spricht. Vielleicht sind seine Hirnzellen schon genervt, immer die gleichen, feststehenden Sätze vorlesen zu müssen und weigern sich, während sie beim freien Sprechen herumhüpfen und Spaß haben können. Schlauen Hirnzellen wird es schnell langweilig, wenn sie unkreative Wiederholungssachen machen müssen.

Aber auch die Mischung von kantigerem Lesen und lockerem Sprechen macht Spaß, ist berührend, komisch und auch mal ernst. Rainald Grebe kann das Spiel mit den Emotionen. Er lässt miterleben, wie er als Jugendlicher plötzlich entdeckt, dass man auf dem Klavier nicht nur Etüden spielen und Fingersätze üben kann. Ein Notenbuch von Billy Joell eröffnet ihm eine neue Welt. Zögernd, die Akkorde vorsichtig anspielend und mit Akkordsuchpausen den Text mitsingend, baut sich „She’s got away“ auf. Dazu werden Fotos vom jugendlichen Rainald am heimischen Klavier gezeigt. Ich kenne diese Szene, die hat Rainald schon mehrfach in Programmen gezeigt, aber sie nimmt mich jedes Mal mit und berührt mich sehr. Wunderschön.

Auch „Krümel“, sein trauriges Lied, in dem sich wohl fast jeder Pubertierende wiedererkennt zwischen Kind und Was-wird? und Wer-bin-ich?, ist wunderschön. Ich sabber schon wieder fast beim Zuhören, was bei mir ja ein Zeichen für komplette Entspannung – besonders des rechten Mundwinkels – und größte Berührtheit ist. Hach, so schön. Rainald weiß, wie er berühren kann und bei mir trifft er immer sofort. Die Klaviereinlagen sind aber nur kleine i-Tüpfelchen der Lesung, die zum Thema passen. Meistens erzählt Rainald, und das Publikum reagiert sehr freudig und klatscht viel.

Vor einem Jahr dauerte die Lesung gerade mal eine Stunde, was einige Besucher irritierte, auch wenn es anschließend noch die Zeit zum Signieren gab. Diesmal liest, erzählt und singt Rainald eine Stunde und 45 Minuten ohne Pause, danach sitzt er im Foyer und signiert. Viele Bücher. Der extra anwesende Buchhändler hat viele angeschleppt, aber auch die reichen nicht. Besorgt guckt er auf die letzten fünf Exemplare, während immer noch 20 Leute in der Schlange anstehen.

Für den Rückweg mit der Bahn habe ich den Spruch im Kopf: „Nach 22 Uhr als Frau immer in den ersten Wagen, damit du nah an der Fahrerkabine bist.“ Tja, das geht nicht, denn auch diese Bahn ist rappelvoll und in den ersten Wagen komme ich gar nicht mehr rein. Mit Mühe quetsche ich mich in den zweiten. Eng gedrückt zwischen vielen Leuten, einige davon jugendlich, einige ziemlich angetrunken, viele sehr laut, einem in meinem Rücken, der immer wieder laut: „Geil!! Supergeil!!“ ruft, fahre ich stehend bis zum Park&Ride-Platz. Von dort aus geht es mit dem Auto in 20 Minuten nach Hause. Als ich durch mein Wohndorf fahre, ist dort alles dunkel und still. Nur ein Mann mit Hund ist auf dem Bürgersteig zu erkennen. Tote Hose. Wie schön! Was bin ich doch für ein glückliches Landei!

Was für ein Hin und Her in dieser Woche! Kirschbaum holen, Auto kaputt, keinen Kirschbaum holen, Corona, kein Friedemann Weise, wohl auch kein Rainald Grebe, doch kein Corona, Auto wieder da, doch Rainald Grebe. Das Verlässlichste war das Loch im Garten, das ich für den Kirschbaum gegraben habe, und das immer noch einfach ein Loch im Garten ist.