Blog

Blog 801 – 03.09.2023 – Stühlerücken statt Ruhe, Warschau und Löwenkopf

Am Sonntag wache ich früh im Warschauer Hotel auf und freue mich auf das Frühstücksbuffet. An den vorherigen Tagen habe ich vor der Arbeit nur einen Kaffee und ein Minibrötchen gefrühstückt, heute ist kein Arbeitstag mehr, ich habe Zeit und kann das tolle Buffet genießen. Schon vor sieben Uhr gehe ich hin, ehe es mir zu voll wird. Als ich vom Personal gefragt werde, ob ich im Innenhof sitzen möchte, stimme ich sofort zu. Es ist warm, der Himmel strahlt blau und dort zwischen den Grünpflanzen zu frühstücken, ist bestimmt sehr gemütlich. Außerdem ist noch kein anderer Gast dort. Nicht mal die Tische sind eingedeckt.

Während ich mir einen Kaffee, Saft, Brötchen und „Du musst unbedingt das Rührei probieren! Das schmeckt wie früher bei meiner Oma!“ hole, wird mein Tisch vom Personal hergerichtet. Kissen für die Stühle, Besteck und Serviette. Ich setze mich und freue mich über die Ruhe. Als ich gerade gemütlich am Brötchen kaue, legt der Service des Sternehotels los.

Zu dritt und viert werden die Tische um mich herum vorbereitet. Das Personal läuft leise und geschmeidig, aber alle müssen immer an meinem Tisch vorbei. Holzstühle werden knirschend gerückt, Kissen, Teller und Besteck gebracht und klappernd verteilt. Die Tischnummernschilder werden sorgfältig auf allen Tischen aufgestellt, dann die Pfeffer- und Salzstreuer, danach Töpfchen mit verschiedenen Zuckerstreifen. Es ist ein ständiges Gewusel und Stühlerücken um mich herum, das im hohen Innenhof hallt. Mit Ruhe und gemütlich ist nichts. Ich grinse kauend vor mich hin und fühle mich wie in einem Loriotsketch. Das hat schon einen eigenen Humor, wie ich ganz alleine mit meinem Frühstück zwischen dem eifrig herumlaufenden Personal sitze und es ringsherum kracht, knirscht und klappert.

Mein Buffetgenießen fällt dann doch kürzer als gedacht aus, weil ich, als alles eingerichtet ist und es gerade leise wird, gar nicht mehr so viel Lust aufs Sitzen und Frühstücken habe. Außerdem wartet die Innenstadt von Warschau, für die ich noch einige Stunden Zeit habe, ehe ich zum Flughafen fahre. Wie ich es gerne mache, laufe ich einfach los und entscheide an jeder Ecke, wohin es weitergeht. Die Innenstadt von Warschau und die malerische Altstadt sind wirklich schön.

Es ist schon fast zu heiß für stundenlanges Herumlaufen. Zum Glück gibt es überall an Straßen, Plätzen und in Parks Sitzgelegenheiten, was es einfach macht, immer mal wieder eine kurze Pause einzulegen. Nicht nur die vielen Bänke sind für mich ungewöhnlich, oft sitzen ältere und sogar ziemlich alte Frauen darauf, die meistens in ihr Smartphone vertieft sind und lässig mit dem Finger über die Oberfläche wischen. In dieser Hinsicht ist Polen deutlich weiter als Deutschland.

Die Situation der Ukraine ist hier sehr präsent. Das Land grenzt sowohl an die Ukraine als auch an Belarus, und die Grenze zu Belarus ist von Warschau gerade mal 200 km entfernt. Kein Land hat so viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen wie Polen. Schon am ersten Tag habe ich Geld in eine Spendendose geworfen, mit der für Hilfsgütertransporte in die Ukraine gesammelt wird. Vor der Warschauer Universität wird die Ausstellung „Unissued Diploma“ (nicht ausgestellte Diplome) gezeigt, die auch weltweit an anderen Orten zu sehen ist.

Hier werden auf mehreren Tafeln ukrainische Studentinnen und Studenten mit einem kurzen, privaten Lebenslauf gezeigt, ihrem Studienfach, ihren Hobbies und Zielen, und wo und wie sie bei der russischen Invasion ums Leben kamen. Als sie sich in Mariupol bei einem Bombenangriff unterstellten und verschüttet wurden, als sie in Donezk im Auto fuhren und gezielt beschossen wurden oder bei der Verteidigung ihres Landes in der Region Charkiv. Alles junge Menschen, die eine europäisch-normale Zukunft hatten und Opfer des russischen Terrors wurden. Es ist sehr berührend, wie die Zahlen plötzlich Gesichter bekommen und freundliche, junge Menschen mit Wünschen und Träumen sind. Auch das gehört gerade zu Warschau und der Welt. Ich finde es sehr berührend und traurig.

Gegen Mittag ziehen Wolken auf, die die Temperaturen etwas angenehmer machen, es bleibt aber warm und trocken. Zum Abschluss meines Warschaubesuchs esse ich in einem kleinen Restaurant landestypische „Polskie pierogi“. Schon die dazu bestellte hausgemachte Zitronenlimonade ist ein Traum, und die Piroggen sind frisch gemacht, dampfend heiß, haben vier verschieden Füllungen und werden mit geschmorten Zwiebeln, Schmand und Cranberry-Dip serviert. Mjammi, mjammi, mjammi! So lecker!

Am frühen Nachmittag geht’s zum Flughafen, wo die Warteschlangen so lang sind, dass es wirklich knapp mit meinem Flug wird. Mehr als eine Stunde stehe ich an, um mein Flugtickt zu bekommen und die Reisetasche abzugeben. Für 16:30 Uhr steht das Boarding auf meinem Ticket, fünf Minuten vorher stehe ich immer noch in der Warteschlange vor dem Sicherheitscheck. Die Angestellten beeilen sich, aber es sind zu wenige Schalter offen. Bei vielen Anstehenden gibt es leichte Panikstimmung, einige verpassen gerade ihren Flug. Kaum bin ich durch den Check, gucke ich nach meinem Gate 43, zu dem ich schnellstmöglich muss. Oh, nein! Ich stehe vor Gate 1 und 2, dann kommt erstmal nichts, dann 3 und 4, dann wieder nichts …

Im Laufschritt rase ich einmal durch den gesamten großen Flughafen bis zur anderen Seite. Das letzte Gate ist die 45, knapp davor halte ich an der 43 schwer atmend an und erfahre, dass das Boarding in einer Minute beginnen wird. Puh! Aus dem Lautsprecher hallt die englische Durchsage, dass auf Passagiere, die zu spät kommen, nicht gewartet werden kann. Na toll! Chaos in der Flughafenorganisation und die Passagiere sind die Dummen. Ob das ältere Paar, das in der Schlange hinter mir stand und zur selben Zeit Gate 42 nach Stuttgart erreichen muss, das schaffen kann, bezweifle ich angesichts des langen Laufweges.

Kaum sitze ich im Flugzeug, rollt das schon langsam zur Startbahn, es heißt tschüss, Warschau! und kurz darauf bin ich in der Luft. Zwei Stunden später lande ich in Düsseldorf und finde, das Wichtigste ist, dass ich gut angekommen bin. Allerdings hat mir das Fliegen und die viele benötigte Zeit an den Flughäfen nicht wirklich Spaß gemacht. Vielleicht nehme ich bei der nächsten längeren Reise dann doch die Bahn. Obwohl: Zwölf Stunden …?

Die Woche vergeht mit Wäsche waschen, Biotonne füllen, Fotos raussuchen und verschicken, Termine ausmachen, bei meinem Vater vorbeifahren und dem üblichen Kleinkram. Am Samstagmorgen fahre ich in die Eifel zum Steineklopfen. Zwei Tage meditative Entspannung im Klopfrhythmus. Ich weiß bis zur Ankunft nicht, was für ein Motiv ich machen möchte, suche mir dann aber recht schnell einen großen, etwas schmalen Stein aus. Er ist frisch gespalten, so dass er helle Stellen, aber auch moosbewachsene Seiten hat.

Daraus könnte ich eine Art schneckengedrehtes, versteinertes Fossil machen. Oder einen Stein, auf dem oben mehrere kleine Vögel sitzen. Oder einen großen Löwenkopf. Spontan entscheide ich mich für den Löwenkopf. Klopf, klopf, klopf. Am Abend sind schon einige Kilo Stein abgeschlagen und der Löwe drängt sich raus. Ich bin verstaubt, müde, zufrieden und sehr entspannt. Dass es am nächsten Tag weitergeht, ist doppelt gut.