Blog 837 – 12.05.2024 – Proben, Podcast und Premiere
Es ist eine volle Woche. Am Sonntag ist der zweite Tag des Probenwochenendes. Wieder spielen wir das Stück durch und gucken auf das Timing und die Details. Im Durchlauf haben wir unerwartete Textausfälle, die wir jetzt aber unter Hochspannung und mit ratternden Hirnzellen kreativ lösen. Da wir uns schon wie bei den späteren Aufführungen nur in der Garderobe oder auf der Bühne aufhalten, müssen wir alle unsere Kostüme und Requisiten griffbereit unterbringen und uns mit wenig Platz für zehn Personen arrangieren.
Unter den Realbedingungen sehen wir jetzt, wer sich blitzschnell umziehen muss, wer dabei Hilfe braucht, wann in der Garderobe ein Laufweg freigehalten werden muss, wer beim Frisurenwechsel die Haare feststecken und wer einfach mal fünf Textseiten lang auf dem Sofa sitzen bleiben kann. Am Sonntagabend, nach dem Wochenende mit vielen Stunden Konzentration, Enge und vielen Leuten, bin ich ziemlich müde. Dabei fängt die anstrengende Zeit dieser Woche jetzt erst an.
Am nächsten Morgen fahre ich einkaufen – Sicherheitsnadeln und Gardinenfeststeller für die Dekoration, Haarspray und Makeup-Grundierung für mich -, dann geht es weiter zu meinem Vater, der einen Augenarzttermin in einer Nachbarstadt hat. Mit Fahrstrecken, Laufweg und Wartezeiten beim Arzt dauert es mehr als drei Stunden bis ich wieder Zuhause bin. Um 19 Uhr beginnt die Probe, die diesmal bis nach 23 Uhr dauert.
Ich komme in einer Mischung aus hellwach und müde nach Hause. Gegen Mitternacht schlafe ich ein und werde blöderweise am nächsten Morgen schon vor 6 Uhr wieder wach. Ich bin immer noch müde. Aber wach.
Meine Augenringe sind an diesem Morgen so dunkel, dass ich erschreckend krank aussehe. Der Bereich zwischen innerem Augenwinkel und Nase ist fast schwarz. Das passiert bei mir schnell, wenn ich viel zu tun und zu wenig Schlaf habe. An diesem Morgen greife ich tatsächlich zu einem Abdeckstift, denn am Vormittag bin ich Gast bei einem Podcast, der zwar nur akustisch aufgezeichnet wird, aber ich möchte über die Webcams kein Erschrecken auslösen. Vor allem, weil die kleine Bildschirmkamera die Augenringe wie blutunterlaufene Boxkampfverletzungen aussehen lassen. Also eigentlich witzig – aber nee.
Den Podcast machen Edda Schnittgard und Dierk Riepe, die beide an Multipler Sklerose erkrankt sind und sehr kurzweilig und oft humorvoll über das weite Umfeld von Erkrankungen, Alltagsproblemen und manchmal auch kuriosen Vorfällen reden. Weil ich in meinem Alltag selten still herumsitze und einem Podcast konzentriert zuhören kann, bin ich keine Podcasthörerin – auch wenn mich viele sehr interessieren würden. Die Beiträge von „1000gesichterplus2.de“ höre ich aber möglichst regelmäßig an.
Die Gründe: Ich kenne Edda und mag sie sehr. Ich finde den sarkastischen Humor der beiden sehr gut. Sie führen ein lockeres Gespräch über ein Thema, bei dem sich mir oft neue Blickwinkel öffnen. Ich komme fast immer mit „Aha!“- und „Ah so!“-Erkenntnissen raus. Ich bin anscheinend gesund, weiß aber, dass sich das kann schon am nächsten Tag entscheidend ändern kann. Und die Folge dauert nur eine halbe Stunde und das bekomme ich oft hin.
Einschub: Edda kenne ich noch als Hälfte des Duos „Queen bee“, das ich früher sehr gerne live gesehen habe. Edda und Ina waren einfach klasse. „Queen bee“ hörte im Jahr 2005 auf und ich vermisse sie immer noch. Ich lasse zuhause sehr altmodisch CDs laufen, und als mir vor einigen Wochen klar wurde, dass meine Queen-bee-CDs, die ich immer noch anhöre, irgendwann mal kaputtgehen könnten, habe ich in einem Spontankauf alle nochmal geholt. Gebraucht, denn neu scheint es sie gar nicht mehr zu geben. Gleichzeitig habe ich noch Caterina-Valente-CDs in den Warenkorb gelegt, was musikalisch nicht ganz unpassend ist. Als ich die Spontanbestellung mit einem Klick abgeschickt hatte, dachte ich noch: „War das wirklich nötig?“, als ich das Paket mit den CDs auspackte, war ich sehr fröhlich und dachte: „Ja!“
Zurück zum Podcast. Ab und zu haben Edda und Dirk einen Gast, und das bin diesmal ich. Es geht um schwere Erkrankungen in der Familie und um die Möglichkeit – oder Angst -, diese ebenfalls zu bekommen. Bei mir steht die Demenz hinter dem Horizont. Oder doch NPH? Vielleicht auch gar nichts. Wir plaudern angeregt, ich fühle mich bei den beiden gut aufgehoben, dann ist die Aufnahme auch schon vorbei. Natürlich denke ich danach, dass ich hier etwas anders hätte sagen können und dort noch etwas erwähnen – und warum habe ich mich zweimal so verhaspelt? -, aber das ist ja normal. So ist es in einem Livegespräch. In zwei oder drei Wochen wird die Folge voraussichtlich veröffentlicht. Dass mir die Gedanken an meine Mutter, an früher und an Familienmitglieder, die damals noch so selbstverständlich dabei waren und inzwischen lange weg sind, in den Tagen danach immer wieder intensiv durch den Kopf gehen, hatte ich allerdings nicht gedacht.
Am Nachmittag fahre ich zwei Stunden früher zur Probe, weil die aufgehängten Kulissenvorhänge immer wieder auseinanderklaffen und aneinandergenäht werden müssen. Wie gut, dass ich eine Ausbildung als Puppenbauerin habe und Köpfe, Nasen, Ohren und winzigkleine Finger nähen kann. Da klappt es auch mit großen Stichen an langen Vorhängen.
Die Probe läuft gut, wir sind sehr zufrieden. Hin und wieder fehlt mal ein Satz oder es geht im Dialog etwas durcheinander, aber wir kommen immer wieder rein und fühlen uns zunehmend sicherer. Noch nicht überprobt, aber mit der Gelassenheit, dass man selber oder irgendjemand schon wieder einen Textanschluss findet. Schon wieder geht es bis 23 Uhr. Als ich im Bett liege, kann ich zuerst nicht einschlafen und lese noch etwas, gegen Mitternacht schlafe ich endlich ein und wache – zack! – um 6 Uhr auf. Och, nee!
Den Mittwochvormittag verbringe ich wie immer bei meinem Vater und erledige dort einiges. Zum Abschluss koche ich Mittagessen und wir essen gemeinsam, dann fahre ich nach Hause. Am Nachmittag wickle ich meine feuchten Ponyhaare um einen Lockenwickler, um eine Frisur für das Nil-Stück auszuprobieren. Ponyhaare gab es zu der Zeit nicht, es wurde alles lang gehalten und zurückgesteckt. Die getrocknete und ausgewickelte Haartolle sieht etwas doof aus, passt aber zur Rolle. Die nehme ich. Am Abend ist Probe bis nach 23 Uhr, am nächsten Morgen bin ich schon wieder vor 6 Uhr wach. In was für einer Zeitschleife ist mein Schlafrhythmus gelandet?
Am Donnerstag ist Feiertag, der bei mir weder als Christi Himmelfahrt noch als Vatertag zelebriert wird. Bei kirchlichen Sachen bin ich raus und Männer, die dann rumziehen und viel Alkohol trinken, sind bei mir auch raus. Frei ist der Tag aber nicht, denn wir nutzen ihn am späten Nachmittag für die Generalprobe. Mittags drehe ich meine Ponyhaare ein, etwas später schminke ich mich im heimischen Badezimmer. In der Garderobe ist wenig Platz, mehrere Mitspielerinnen müssen sich schminken und ich mache das lieber Zuhause, wo ich alles, was nicht klappt, wieder wegwischen kann. Die lilafarbenen Lockenwickler behalte ich auf dem Hinweg im Haar. Da ich mit dem eigenen Auto und nicht mit dem Bus fahre, geht das. Im Theater werden mir die Haare geflochten und hinten als Kranz gesteckt. Passt. Jetzt ist es nur noch etwas schwierig, die mit Haarspray betonierte Stirnlocke erst unter den Hut und dann unbeschädigt wieder rauszubekommen, aber da muss ich sehen, dass ich das möglichst gut hinbekomme.
Wir spielen das Stück einmal unter realen Bedingungen durch und – bis auf sehr kleine Pannen, die alle vom Publikum nicht bemerkt worden wären – läuft es schön durch.
Im Anschluss gibt es eine letzte Besprechungsrunde und damit sind die Proben beendet. Der Freitag ist frei, am Samstag ist Premiere.
Der Freitag ist theaterfrei, was ich gut gebrauchen kann. Ich kaufe für das Wochenende ein, wasche die Theatersachen und ordne alle meine Requisiten und die benötigten Schminksachen. Außerdem bereite ich die Zutaten für meinen Beitrag zum Premierenbuffet vor, damit ich am Samstagmorgen alles in Ruhe fertigmachen kann und keinen Stress habe.
Ende März habe ich eine Illustration gemacht, von der ich da noch nichts zeigen wollte, weil sie das Premierengeschenk für die Mitspielenden wird. Normalerweise geben wir uns gegenseitig eine kleine Süßigkeit, aber ich hatte plötzlich Lust, zu zeichnen. Im Stil einer ägyptischen Wandmalerei habe ich alle Beteiligten in ihren Rollen auf ein Nilschiff gestellt. Davon sollten sie natürlich vor der Premiere nichts sehen. Die Blätter sind in der letzten Woche aus der Druckerei gekommen und jetzt stecke ich sie in Briefumschläge, die ich mit den Rollennamen beschrifte. Als alle fertig sind, merke ich, dass die dünnen Umschläge zu wenig Knickschutz für die dünnen Drucke bieten. Ich fange nochmal mit dem Beschriften an und nehme diesmal Umschläge mit Papprückwand.
Am Premierentag trinke ich kurz eine Tasse Kaffee im Garten und würde am liebsten gleich dort bleiben. Die beste Zeit. Alles wächst saftiggrün, ohne dass ich tägliche Gießrunden drehen muss und die aktuell blühenden Akeleien machen es wunderschön bunt. Ich sitze allgemein nicht nur zu wenig am Meer, sondern auch zu wenig im Garten.
Stattdessen mache ich kleine Hamburger fürs Premierenbuffet. Die Patties brate ich aus Sojaprotein, so dass die Burger zwar nicht vegan, aber immerhin vegetarisch sind. 50 kleine Hamburger backen, braten und mit Salat, Soße und Käse stapeln und aufpieksen, das dauert. Danach duschen, Ponyhaare aufdrehen, restliche Haare flechten, Gesicht schminken und ab ins kleine Theater.
Am Abend sticht der Nildampfer „Lotus“ in See und wir kommen sehr gut durch. Das macht schon Spaß. Wie es bei Agatha Christie immer ist, gibt es so viele Hinweise und Verdächtige, dass die Geschichte etwas kompliziert wird und die Auflösung gegen Ende dann länger erklärt werden muss, aber das Publikum folgt allem, lacht zwischendurch an den lustigen Stellen, ist ganz still an den tragischen und applaudiert am Ende sehr. Wir stoßen im dunklen Hof auf die gelungene Nilfahrt an und stürzen uns dann mit den Premierenbesuchern aufs volle Buffet. Die kleinen Hamburger sind schneller weg als ich für die Herstellung gebraucht habe. So soll es sein.
Dass ich ab jetzt keine zwei Proben mehr pro Woche habe, fühlt sich an wie ganz viel freie Zeit. Dabei gibt es stattdessen ja die Wochenend-Auftrittstermine. Trotzdem schön.