Blog

Blog 854 – 08.09.2024 – Teetisch, Schmalz und Treets-Musik

Am Sonntag wache ich schon vor fünf Uhr auf und bin hellwach. Das ist etwas blöd an einem Tag, der lang werden wird. Sehr lang. Jetzt habe ich zwar eine drei Stunden lange Kaffee-Frühstückszeit, mehr Schlaf wäre aber besser gewesen. Immerhin freuen sich die Augenringe über die kurze Nacht und werden immer dunkler. Es ist der zweite Tag des Steinhauwochenendes. Um kurz nach neun bin ich auf Gelände, hole mir einen weiteren Kaffee und beginne dann mit Hammer und Meißel an meinem Stein zu klopfen. Das Wetter ist immer noch sonnig schön, aber eigentlich zu heiß, denn wir arbeiten uns beim Hämmern ja selber ziemlich warm. Auch wenn es anstrengend ist, das Steineklopfen gehört für mich zu den schönsten Tätigkeiten. Wenn ich doch nur anstelle von Haushaltsbeschäftigungen wie Badezimmer und Küche saubermachen, Wäsche verräumen und immer wieder aufräumen kreativ an einem Stein klopfen könnte. Wie viel schöner wäre das Leben!

Weil ich bis zum Nachmittag viel schaffen will, arbeite ich konzentriert. Ich bedauere immer wieder, dass ich nur zwei Tage und nicht eine ganze Woche auf dem Gelände stehen und Steine klopfen kann. Wobei ich das könnte, wenn ich Mitglied im Steinhauverein werden würde. Aber würde ich dann wirklich immer mal wieder für eine Woche hinfahren? Vermutlich nicht.

Üblicherweise sammeln sich die Steineklopfer und ihre fertigen oder halbfertigen Ergebnisse gegen 16 Uhr langsam für das gemeinsame Abschlussfoto und es dauert immer ein bisschen, bis wirklich alle da sind. Diesmal sind wir sehr pünktlich, was mich freut, denn ich habe noch einen Abendtermin und auf der Autobahn ist zwischendurch Stau angesagt. Sofort nach dem Foto lade ich – mit Hilfe – meinen „Teetisch mit Frauengesicht und fliegenden Haaren -Stein“ ins Auto, nehme mir nicht mal die Zeit, mich von allen zu verabschieden und flitze los.

Als ich Zuhause ankomme, bin ich grau und staubig. Aus den Haaren und der Kleidung fallen bei Bewegungen kleine Steinbröckchen. Vermutlich steigen bei jedem meiner Schritte Staubwölkchen hinter mir auf. Als Steinhauerin gehe ich unter die Dusche, komme heraus, ziehe mir ein römisches Gewand über und werde zu Decimus Servilius, einem römischen Finanzbeamten. Eines unserer privaten Krimidinner steht für den Abend an, und das Gewand für meine Rolle habe ich mir vor zwei Wochen aus einem Ikea-Bettüberwurf und einer Übergardine genäht. So wie die Römer das vermutlich auch immer gemacht haben.

„Willst du so hinfahren?“, fragt der Gatte mit hörbarem Schrecken in der Stimme. Ja, klar. Ich hoffe allerdings, dass ich nicht in einen Auffahrunfall gerate und aussteigen muss und außerdem einen Parkplatz direkt vor der Türe finde, damit ich nicht in meinem langen Römergewand und den Sandalen durch die Gegend laufe. Muss ich nicht. Den Weg laufen muss stattdessen ein später ankommender Teilnehmer, dem sein strahlend buntes Ägypterkostüm nur bis an die Oberschenkel reicht und der als „Wache des Pharao“ einen Speer trägt, der witzigerweise ein professionelles, knallgrünes Gerät aus dem Sportbereich ist. Hach, ich mag die Kreativität bei den Kostümen immer sehr.

Der Abend in Ägypten mit römischen, ägyptischen und nubischen Mitspielern wird sehr lang. Der Fall ist kompliziert, die Namen und Rekonstruktionen der Wege, Gänge und Uhrzeiten sind es auch, und manche Angaben müssen wir mehrfach lesen, um sie einigermaßen zu verstehen und zu überblicken. Es macht trotzdem Spaß, aber wir sind erst um 23 Uhr 30 fertig mit dem Krimi, was für einen Sonntagabend viel zu spät ist. Vor allem für Leute, die schon vor 5 Uhr wach waren und dann stundenlang Stein geklopft haben.


Am nächsten Tag fahre ich schon früh Lebensmittel einkaufen und bringe sie in die Wohnung meines Vaters. Am nächsten Morgen soll die polnische Pflegekraft kommen, und sie braucht etwas zum Frühstück und einige essbare Sachen zur Auswahl bis zum nächsten Tag. Lüften, Blumen auf den Tisch, Kabel für den Fernseher anschließen, dann fahre ich weiter zum Krankenhaus, um meinen Vater zu besuchen und die Sachen zu packen, die er bis zu seiner Entlassung in zwei Tagen nicht mehr braucht.

Am Nachmittag bin ich wieder Zuhause und hänge in der Warteschleife der OLB-Bank. Die hat die bisherige Degussabank gekauft und die Umstellung des Kontos meines Vaters klappt nicht. Eineinhalb Stunden bin ich am Telefon, danach gibt es immer noch keine Problemlösung, was vor allem an einer unfreundlichen Mitarbeiterin liegt, die entgegen einer gerade erfolgten Klärung verlangt, dass mein Vater jetzt neben mir sitzen und ein „Ja“ brummen muss, damit ich ihm sein Konto einrichten kann. Es ist warm und schwül und ich fühle mich kaputt. So langsam reicht es. Das sind die ermüdendsten Ferien meines Lebens.


Der Wecker ist am nächsten Morgen auf vier Uhr eingestellt, aber ich werde um drei Uhr von alleine wach. Zwischen fünf und acht Uhr soll die Pflegekraft ankommen, da macht es nichts, wenn ich sofort losfahre. Immerhin sind die Straßen noch leer. Im Haus kann ich noch ein wenig Kleinkram erledigen, dann koche ich mir Kaffee und warte. Und warte. Und warte. Der Bus kommt endlich um kurz vor 9 und bringt Aleksandra mit. Ich sage: „Dzień dobry!“ (Guten Tag), und anscheinend spreche ich es ziemlich korrekt aus, denn sie fragt verblüfft – auf deutsch: „Du sprichst Polnisch?“ „Nur vier Wörter“, sage ich grinsend und trage ihren Koffer rein. Ich zeige ihr alle Zimmer, wir trinken Kaffee, unterhalten uns – sie ist erstaunlich wach – und gegen Mittag lasse ich sie alleine, damit sie sich nach ihrer 14-Stunden-Busfahrt ausruhen kann. Um 16 Uhr werde ich mit meiner Schwester wiederkommen, damit wir gemeinsam alles besprechen können.

Am Nachmittag treffen wir pünktlich ein. Anstatt dass sich Aleksandra in der Zwischenzeit hingelegt hat, hat sie schon in alle Schränke geschaut – was ich ihr zur Orientierung empfohlen hatte -, und außerdem die Kaffeemaschine und Teile der Küche gründlich gesäubert, das Gäste-WC geputzt, einen Kuchen aus der Tiefkühlung aufgetaut und Kaffee gekocht. Im Prinzip empfängt sie uns als Gastgeberin und wir sind die Gäste. Die vorherige Beschreibung ihrer Fähigkeit „führt selbständig einen Haushalt“ ist sogleich bewiesen. Ihr fehlen einige Putzmittel zum gründlichen Reinigen, weshalb wir erstmal zu dritt in einen Supermarkt einkaufen fahren. Danach plaudern wir, erklären, wie mein Vater lebt, was er gerne isst und worauf er Wert legt. Wir haben ein gutes Gefühl mit Aleksandra, die ihre erste Nacht alleine im Haus verbringt.


Am nächsten Morgen fahre ich schon wieder früh zum Haus, weil mein Vater mit einem Krankentransport nach Hause gebracht wird. Er wird im Rollstuhl reingeschoben, steht im Haus aber sofort auf und geht, etwas wackelig, aber alleine zum Sofa. Er freut sich, zuhause zu sein, ist jedoch ziemlich erschöpft und hat wenig Energie. Kein Wunder nach vier Wochen Krankenhaus. Während er Aleksandra kennenlernt, fahre ich zum Arzt, um noch bis zum Mittag die neuen Medikamente verschrieben zu bekommen. Es ist Mittwoch, da sind die Praxen am Nachmittag geschlossen. Auf dem Rückweg fahre ich bei der früheren Degussa-, jetzt OLB-Filiale vorbei, um vor Ort zu fragen, wie ich das Konto nun einrichten kann. Als ich sehe, wie viele Kunden dort im Vorraum warten, um beraten zu werden, entscheide ich, es nochmal mit einem Telefongespräch zu versuchen. Bei meinem Vater zücke ich das Telefon, höre mich erneut durch viele Ansagen, tippe viele Tasten und höre dudelige Wartemusik an. Nach einer Viertelstunde meldet sich ein Mitarbeiter. Ich schildere mein Problem und dass eine Vollmacht vorliegt. Er sieht nach und antwortet freundlich: „Das ist überhaupt kein Problem. Ich schicke das Zugangspasswort als Brief an die Adresse Ihres Vaters, damit können Sie das Konto aktivieren und alles läuft. Haben Sie sonst noch eine Frage?“ Ich bin völlig verblüfft und könnte ihn durch das Telefon umarmen – wenn die Leitung groß genug wäre und er das überhaupt wollen würde. Ach, wie schön, dass es auch solche Mitarbeiter gibt! Es wäre schön, wenn jetzt alles klappen würde.

Am Vorabend habe ich noch Mittagessen vorgekocht, um den heutigen Tag zu entspannen. Aleksandra deckt den Tisch und wärmt das Essen auf, wir essen gemeinsam, danach legt sich mein Vater hin. Ich muss aufpassen, dass er von Aleksandra nicht zu sehr betreut wird, denn das nervt ihn dann auch. Nach dem Essen sind die Rezepte freigeschaltet und ich fahre zur Apotheke, um sie abzuholen. Natürlich ist ein Medikament nicht vorrätig und muss für 18 Uhr bestellt werden. Da wollte ich eigentlich schon wieder zuhause sein. Aber hilft ja nichts. Es bleibt genug Zeit, um mit Aleksandra einen ersten Großeinkauf im Supermarkt zu machen. „Ich wärrde für Papa schön poolnisch koochen!“, sagt sie mit ihrem typischen Akzent und nickt energisch. „Brauche ich Späck und … wie heißt? … ist niie Butter, niie Marrgarine.“ Nicht Butter und nicht Margarine, aber Fett zum Kochen? „Schmalz?“, frage ich. „Ja, Schmalz!“ strahlt sie. Gute Idee! Das wird ihm schmecken. Weil es Schmalz in diesem Supermarkt nicht gibt, fahren wir noch zu einem anderen. Als wir auf dem Rückweg sind, sagt sie bedauernd: „Haben wirr Pudding für Papa verrgessen! Holen wirr nächstes Mal!“

Um 18 Uhr hole ich bei der Apotheke das noch fehlende Medikament und sortiere danach alle nach Plan in den Medikamentenspender. Das erfordert Konzentration, dann es gibt ovale Tabletten in rosa, in weiß mit Bruchkante, in weiß ohne Bruchkante, in weiß mit eingestanzter Zahl, in weiß und rund, in rot, in grün und in gelb.

Gegen 19 Uhr fahre ich endlich nach Hause und merke, dass mein Kopf inzwischen so voll ist, dass ich gar nicht mehr nachdenken will. Funktionieren reicht. Gleichzeitig merke ich, dass eine Belastung abfällt. Papa ist nicht alleine, sondern hat Aleksandra, die darauf achtet, dass es ihm gutgeht. Die beiden werden sich schon kennenlernen und gut miteinander auskommen. Am Abend bin ich vor 22 Uhr im Bett und schlafe neun Stunden durch. Sensationell, das hatte ich schon lange nicht mehr. Die Erleichterung bringt Tiefschlaf.


Dann habe ich zwei Tage frei. Das heißt nicht wirklich frei, denn ich muss dringend zuhause viel Liegengebliebenes bearbeiten. Wäsche waschen, Papiere ordnen und abheften, einkaufen, dem Kaninchen die Fußnägel schneiden. Ich telefoniere mit meinem Vater und schon wieder gibt es Einkaufsbestellungen. Von ihm „Kopfhörer“ und von Aleksandra „Eier“ und „eine kleine Pfanne“ und „Sporthosen für Papa“. Ich fahre schon wieder los und kaufe ein.


Am Samstagmorgen bin ich mit Kopfhörern, Eiern, Pfanne und Sporthosen bei meinem Vater. Ich kümmere mich um seine Finanzen, rechne ab, wir unterhalten uns, Aleksandra wuselt putzend um uns herum und ist nicht zu stoppen. In zwei Wochen wird das Haus so sauber und staubfrei sein, wie niemals zuvor. In der Küche steht schon das vorbereitete Mittagessen, das nur noch in den Ofen muss. Gegen Mittag fahre ich nach Hause, etwas später erfahre ich, dass mein Vater kurz nach meiner Abfahrt gefallen ist. Aleksandra hat ihm sofort geholfen. Er hat anscheinend nur eine Prellung an der Hüfte, die jetzt aber sein eingeschränktes Laufen weiter einschränkt. Ich muss deswegen aber nicht zurückfahren, Aleksandra achtet auf ihn. Wie gut, dass Papa nicht alleine wohnt!


Für den Abend habe ich mir eine Karte für „Treets“ geholt, ein kleines jazziges Ensemble, das vorwiegend Rock- und Popklassiker aus den 80ern in wunderbaren Arrangements singt und dazu feine Musikbegleitung hat. Jan von Maybebop ist dabei, und seitdem ich manchmal kleine Videos von Treets sehe, möchte ich sie unbedingt mal live hören. Der Gatte hat Bandprobe und kann nicht mitkommen, und ich überlege vorher etwas länger, ob ich jetzt wirklich ein Konzert in meine Zeitplanung einschieben will, das in Fröndenberg stattfindet, 130 km entfernt von mir. Aber dann denke ich, dass ich „Treets“ doch so gerne mal live hören würde und dass ich mir das Konzert nach einer übervollen Zeit und meinem ausgefallenen Urlaubsmonat wirklich verdient habe.

Fröndenberg ist mir nicht unbekannt. Ich habe schon mehrere Konzerte dort besucht. A-cappella-musikgeschichtlich gesehen ist erwähnenswert, dass dort im Jahr 1995 die Wise Guys ihr erstes Konzert außerhalb von Köln gegeben haben. Sie hatten sensationelle 40 Zuschauer und das Konzert war – ebenso wie das jetzige Treets-Konzert – schon von Frank Schröer organisiert. Er hat ein gutes Gespür für gute Musik. Inzwischen ist mir Fröndenberg aber auch vom Durchfahren sehr vertraut, denn im Nachbarort Menden befindet sich die Werkstatt von meinem „Puppen-Chef“ Bodo Schulte, in der ich noch im Juni saß und für den Verivox-Fuchs Beine, Arme und winzige, fellige Biegefinger gebaut habe.

Kurzfristig fällt beim Gatten die Probe aus und er hört kurz in die Treets-youtube-Videos und möchte dann ebenfalls mitkommen. Ganz unerwartet, aber wie schön! Da machen wir doch einfach gemeinsam einen Ausflug! Und dann sitzen wir in der kleinen Fröndenberger Kulturscheune und erfreuen uns an den wunderbaren Harmonien, engen Vokalsätzen und der gespannten Raterei, was für ein Klassiker das ist, der gerade gesungen wird. Manchmal erkennen wir ihn nur am Text oder irgendwann in einem kleinen Melodiebogen. Bei manchen Akkorden verzieht sich mein Gesicht von alleine zu einem Lächeln, weil ich es so sehr mag, wenn die close harmonies so eng sind, dass ich nicht mal weiß, wie man das notieren kann, wenn alles über- und aneinanderreibt. Wunderbar! Der großartige Arrangeur der Treets-Stücke ist Linus Kasten, einer der beiden Sänger. Also der, der nicht Jan von Maybebop ist.

Die drei Musiker aus dem Hintergrund sind showmäßig eher unauffällig, spielen aber außergewöhnlich gut. Ich habe noch nie vorher einen so bewegungsarmen Gitarristen gesehen. Normalerweise sind es gerade die Gitarristen, die um ihre Tätigkeit immer ziemlichen Aufwand machen und gerne einen Extra-Scheinwerfer hätten. Arne Lübbert dagegen steht ungewöhnlich still, bewegt nur die Finger, was kaum zu sehen ist, und spielt hervorragend. Verblüffend. Auffallend ist auch, dass sich niemand singend oder spielend in den Vordergrund drängt, sondern dass dort eine Gruppe gemeinsam Musik macht. For music lovers – wie auf dem Plakat angekündigt.

Gut gelaunt und erfreut von dem schönen Abend mit der guten Musik und den wunderbaren Akkorden, fahren wir nach Haus und sind um Mitternacht da. Im heimischen Dorf ist da zum Glück schon das ganztägige Open-Air-Karnevalsmusik-Event mit Umgebungsbeschallung beendet, das für echte „music lovers“ eine akustische Zumutung ist. Wie gut, dass wir dem entkommen konnten und stattdessen musikalische Treets-Leckereien hatten!