Blog 855 – 15.09.2024 – Entspannung, Müdigkeit und der Fuchs
Die anstrengendste Zeit nach dem kleinen Schlaganfall meines Vaters scheint vorüber zu sein. Ich hoffe es. Papa ist Zuhause, die polnische 24-Stunden-Pflegekraft ist bei ihm, und wenn ich mit ihnen telefoniere, ist es manchmal wie Comedy. Aleksandra: „Papa brraucht andere Schuhe für Laufen.“ Papa: „Ich brauche keine anderen Schuhe.“ Aleksandra: „Doch, brrauchst du!“ Papa: „Meine Schuhe sind gut!“ „Nein, sind zu grroß, wackelt dein Fuß. Du brrauchst kleine und leichte Schuhe.“ Papa: „Nichts da, die Schuhe passen gut!“ Aleksandra: „Nein!“ Es hat was von einem langjährigen Ehepaar.
Während sich mein Vater vermutlich fragt, wie um Himmels Willen er jetzt plötzlich an eine Frau gekommen ist, die ihn umwuselt, umsorgt, ständig fragt, was er essen möchte und ihm außerdem sagt, was er zu machen hat, ist es für mich deutlich ruhiger geworden. Um die Wäsche, das Essen, die tägliche Versorgung und Hilfe für meinen Vater kümmert sich Aleksandra und nimmt mir damit viel Anspannung weg. Ganz ruhig wird es für mich aber wohl nicht mehr werden, denn jetzt habe ich bei meinem Vater die Verantwortung für die Erledigung der Post, den wöchentlichen Großeinkauf mit Aleksandra, das Besorgen von Sachen, die nicht in im Supermarkt zu bekommen sind, regelmäßige Arztbesuche und die Übersicht über Termine, Verträge und Finanzen. Das möchte ich gar nicht, aber es muss ja gemacht werden.
Im Fernsehen und Internet werden inzwischen die ersten Spots der neuen Verivox-Werbung gezeigt, die wir im Juli gedreht haben. Ich weiß es ja, aber es ist immer wieder erstaunlich, dass von stundenlangen Drehs mit vielen Wiederholungen und langen Kamerafahrten drei Sekunden pro Szene im Clip übrigbleiben. Oder zwei. Manchmal nur eine.
In einem der Clips ist der Fuchs in einem Computerspiel zu sehen. Beim Drehen mussten wir in grünen Anzügen vor Greenscreen arbeiten, damit der Fuchs mit seinen Bewegungen später freigestellt werden konnte. Aber das Schwitzen und konzentrierte Arbeiten in Polyester hat sich gelohnt.
Bei Youtube entdecke ich auch ein kurzes „Behind the scenes“ des Fuchsdrehs. Erst bin überrascht, dass es das gibt, dann stöhne ich leise, weil leider gut zu erkennen ist, ob gerade ein Puppenspieler den Fuchs lebendig bewegt oder ein Mitarbeiter den Fuchs „hält und wackelt“. Es ist eben doch nicht ganz so einfach wie es von außen oft wirkt. Doch dann gucke ich erstaunt, als ich mich plötzlich im Video erkenne. Ach ja, so ganz schwach erinnere mich an die kurze Abklatsch-Situation in einer Drehpause und wie schwierig es war, die minikleine Fuchshand, die ich mit meiner Bauarbeiterhand selber genäht habe, mit dieser dann auch sofort zu treffen.
Bildunterschrift: „Als Puppenspielerin beim Dreh in Warschau“. – Kann man nicht erkennen, muss man glauben.
Am letzten Samstag habe ich beim Treets-Konzert in Fröndenberg ein Foto gemacht. Das kann danach für einen Zeitungsbericht über das Konzert gebraucht werden. War nicht geplant, finde ich aber prima.
Zuhause habe ich immer noch nicht so viel äußere und innere Ruhe, dass ich draußen sitzen und meinen Stein fertig hauen oder entspannt an der Katze nähen könnte. Stattdessen räume und sortiere ich, wasche Wäsche, arbeite mich durch Ordner und telefoniere. Auf der „Papa To-do-Liste“ gibt es momentan schneller neue Einträge als ich vorherige erledigen kann. Ich bin so grundsätzlich erschöpft und müde, dass ich bewusst nicht hetze, sondern zwischendurch auch mal eine Tasse Tee trinke und abends einfach vor dem Fernseher sitze. Da habe ich dann keinerlei Bedürfnis zu stricken oder zu nähen, was schon zeigt, wie wenig Kapazitäten ich noch frei habe. Vom richtig kreativen Arbeiten bin ich weit entfernt. Am Kinderbuch oder dem Theaterstück schreiben? Am Puppenstück arbeiten? Ha ha. Mit welchen Hirnzellen? Die liegen alle in der Ecke, haben die Augen geschlossen und bewegen sich nicht. Aber ich gehe davon aus, dass sich bei der neuen Situation mit meinem Vater vieles einspielen und dann auch wieder deutlich mehr Zeit für mich bleiben wird.
Die Mittwoche sind jetzt komplett für meinen Vater reserviert. Um neun Uhr morgens bin ich da, damit auch die Pflegekraft einen freien Tag haben kann. Die will das nur noch gar nicht und wuselt weiterhin im Haushalt herum. Vermutlich traut sie Familienmitgliedern nicht zu, dass sie den Vater gut betreuen. Immerhin ist sie einverstanden, dass ich mittwochs das Mittagessen koche. Nachdem mein Vater am Samstag hingefallen ist, kann er jetzt am Rollator nur sehr unsicher und mit Hilfe laufen. Für jedes Aufstehen und Hinsetzen, für jeden Schritt zur Toilette braucht er eine Begleitung, die im Notfall zugreifen kann, aber auch zwischendurch eine helfende Hand reichen muss.
Als ich bei ihm bin, habe ich eine lange Liste von Erledigungen dabei. Strom ablesen und den Wert an den Anbieter schicken, Post durchsehen, Unterlagen raussuchen, Kopien der alten Kontoauszüge machen, neue Bankverbindung aktivieren, wegen Zeitungs-Abo anrufen, wegen Physio anrufen, nach einem Passwort suchen …
In der letzten Woche hatte ich auf seinen Wunsch einen Friseurtermin für heute ausgemacht, den er jetzt wegen seines Lauf-Zustandes absagen möchte. Ich sage, dass wir uns Zeit lassen und das schon schaffen werden. Mehr als zehn Meter kann er allerdings nicht am Rollator gehen, darum hole ich einen alten, gebrauchten Rollstuhl aus der Garage. Der ist schwer und die Fußstützen fallen bei der Benutzung sofort ab. Na, muss dann eben ohne Fußstützen gehen. Ich fahre meinen Vater damit bis zum Auto – „Füße hoch, Papa!“ -, dort steht er mühsam und mit Hilfe auf und windet sich sehr langsam auf den Autositz. Vor dem Friseurladen das Gleiche andersherum, zum Haareschneiden kann er im Rollstuhl sitzenbleiben, danach zurück zum Auto, mühsam einsteigen und dann vor dem Haus wieder aussteigen und mit dem Rollstuhl bis ins Wohnzimmer. Er sieht zehn Jahre jünger aus – wie die Friseurin sagt – und ist so müde, dass er sofort im Wohnzimmer auf den Sessel gesetzt werden möchte, um zu schlafen. Das ist praktisch, denn während er sitzt, kann ich mit Aleksandra losfahren und den Wocheneinkauf machen.
Als wir zurück sind, sitzt Papa immer noch brav im Sessel und hat sich nicht gerührt. Zum Glück traut er sich gerade nicht alleine. Ich schreibe auf meine To-do-Liste, was er an Hilfsmitteln braucht. Angefangen von einem Haltegriff im Badezimmer bis hin zu Rollstuhl – leicht, klappbar und mit funktionierenden Fußstützen – und einem verstellbaren Krankenbett, das er im Kopf- und Fußteil hochstellen und aus dem er besser aufstehen kann als aus seinem tiefen bisherigen Normalbett. Auch im Pflegegrad kann er bestimmt höhergestuft werden. Ich stelle einen Antrag beim medizinische Dienst. Am Nachmittag möchte mein Vater noch die Nachbarin besuchen, und so schiebe ich ihn im Rollstuhl hin und wir sitzen zu fünft – zwei Senioren, zwei Hilfskräfte und eine Tochter – am Kaffeetisch und unterhalten uns. Als wir zurück sind, verabschiede ich mich und bin um halb Sieben wieder Zuhause. Sehr müde und schon wieder mit neuen Punkten auf der To-do-Liste.
Am nächsten Morgen stehe ich auf und bin auf zwei freie Tage eingestellt. Wie schön! Doch schon am Vormittag habe ich offene Fragen mit der Krankenkasse geklärt, beim Hausarzt meines Vaters angerufen, wo Hilfsmittel-Verordnungen fertiggemacht werden, die ich dann abholen und zum Sanitätshaus bringen kann. Weil außerdem noch dringend wuchernde Pflanzen am Haus meines Vaters zu entfernen sind – wie ich gestern auf dem Weg zur Nachbarin gesehen habe – und sich meine Mainzer Tante und ihr Mann zum Kaffeebesuch bei ihm angemeldet haben, die ich gerne treffen würde, fahre ich schon wieder zu ihm.
Ich bin gut beschäftigt. Meterlange Pflanzen entfernen, loses Blech notdürftig fixieren, Kaffee trinken, plaudern, beim Hausarzt Verordnungen abholen, beim Sanitätshaus Hilfsmittel bestellen – nach 18 Uhr bin ich wieder zuhause.
Der Freitag ist dann frei. Frei für den eigenen Einkauf, Hausarbeiten und langsames, energiearmes Herumwuseln. Ich hänge nicht durch und bin gut gelaunt, aber mehr geht gerade nicht. Unterwegs und bei meinem Vater bin ich wach und bereit, aber zuhause muss ich die Energie, die täglich rausgeht, wieder aufladen. Am Abend ist klar, dass der Sohn für einige Tage kommt und am Sonntag seine Spielerunde bei uns stattfindet. Ich fahre nochmal einkaufen, damit die Gruppe dann auch mit Essen versorgt ist. Knusprige Quetschkartoffeln aus dem Ofen mit Dips sind genau richtig.
Am Samstagmorgen fahre ich mit dem Gatten zusammen eine Stunde nach Koblenz, wo der Sohn mit dem Zug aus Frankfurt ankommt. Schon wieder ist der Koblenzer Bahnhof sehr voll, der Zug kommt verspätet und fährt dann auf einem anderen Gleis ein. Beim nächsten Mal holen wir ihn vielleicht eine Station vorher, in Boppard ab. Hach, Wochenende! Und leider schön, dass es kein gutes Jahr für die Tafeltraube „Vanessa“ war. Die Trauben mickern vor sich hin, und darum muss ich jetzt für meinen Vater nicht ganz alleine kiloweise Trauben ernten, waschen und zu Saft und Marmelade einkochen. Erstaunlicherweise hätte ich dazu gerade gar keine Lust gehabt.