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Blog 857 – 29.09.2024 – Hawaii, Turbomäuse und Halbtagstelle

Die mysteriöse Pflanze, die bei mir nach vielen Deko-Jahren plötzlich aus einer großen Samenkapsel wuchs, ist enttarnt! Nachdem ich bei meinen eigenen Internetrecherchen nichts fand, postete ich die Frage auf meiner Facebookseite. Andreas G. hatte die Erklärung: Gugo. Auch Riesen-Urwaldbohne, Riesen-Liane, Elefanten-Shampoo-Bohne, St. Thomas-Bean und Matchbox-Bean genannt. Wissenschaftlich: Entada phaseoloides.

Es ist eine schnellwachsende, immergrüne Rankpflanze, die in Asien, Nord-Australien, Japan, Fidji und sogar Hawaii beheimatet ist. Dass ich sie von einem Texas-Besuch mitgebracht bekommen habe, war wohl falsch kombiniert. Die Besucher kamen zwar gerade von einem dreimonatigen Texas-Urlaub und brachten mir die lange Schote mit, aber vermutlich haben sie die zusammen mit einem Strauß Blumen bei einem heimischen Blumenladen gekauft. Und jetzt habe ich unerwartet hawaiianische Vegetation im Garten.

Eine Gugo-Pflanze möchte es über 10 Grad haben – auch wenn sie als Samenkapsel seltsamerweise mehrere Frostwinter freiliegend im Garten überstanden hat – und sie kann hundert Meter lang werden. Auf den wenigen Bilder im Internet, auf denen nicht die beeindruckend großen Schoten und Samenkapseln zu sehen sind, sind dicke, meterlange Schlingarme abgebildet, die eher Äste als Arme sind. Ein bisschen erschreckend ist das schon. Bis zu meiner Zimmerdecke sind es knapp drei Meter. Mehr als die Hälfte hat meine Baby-Gugo in diesem Sommer schon erreicht. Was mache ich bloß mit ihr? Brauche ich jetzt einen 100 Meter hohen Tropen-Gewächshaus-Turm?


Den Montagmorgen beginne ich schon früh mit Telefonaten für meinen Vater. Zuerst hänge ich in der Röntgenzentrums-Warteschleife, um den Hüft-Termin meines Vaters abzusagen, weil die Hüfte ja völlig in Ordnung ist. Danach gehe ich in die Bank-Warteschleife, um auf falsche Angaben im EC-Karten-Antrag meines Vaters hinzuweisen, die geändert werden müssen, ehe er damit seine neue Karte beantragen kann. Am längsten hänge ich in der Warteschleife des Sanitäts-Haupthauses, wo ich nachfragen möchte, wie es mit der Lieferung von Pflegebett, Rollstuhl und Toilettensitzerhöhung aussieht. Bei der Bestellung im Filialbüro vor zehn Tagen hieß es: „Es meldet sich in den nächsten Tagen jemand bei Ihnen und bespricht, was für ein Pflegebett Sie benötigen“. Jetzt werde ich zuerst in den Abteilungen hin und her verbunden – jedes Mal mit einer erneuten Warteschleife -, dann heißt es: „Das Bett wird morgen geliefert. Mit den anderen Sachen.“ Na toll! Als ich anspreche, dass das schon sehr kurzfristig ist, besonders wenn ich den Termin eher zufällig am Vortag erfahre, findet die Dame am Telefon das zwar auch, wegen Personalmangel ginge es aber nicht anders. Für mich bedeutet es, dass ich in dieser Woche nicht nur am üblichen Mittwoch zu meinem Vater fahre und außerdem wegen eines Arzttermines am Donnerstag, sondern jetzt auch am Dienstag wegen der Bettlieferung.

Am heutigen Tag muss ich aber nicht hin, darum kann ich am Nachmittag im Nachbarort ein Teeservice abholen, das ich für nur 15 Euro über Kleinanzeigen gekauft habe. Es ist für acht Personen und völlig unbeschädigt. Hach, ich mag so altes Geschirr sehr gerne. Es muss gar nicht wertvoll und von Meißen oder sonst was sein. Kleine altmodische Blümchen reichen, um mein Herz zu schmelzen. Außerdem soll es Gebrauchsgeschirr sein, das auch hin und wieder auf den Kaffeetisch kommt, kein Sammelgut.


Am nächsten Morgen fahre ich früh zu meinem Vater, um rechtzeitig zum zwischen 9 und 12 angekündigten Liefertermin dort zu sein. Der Wagen kommt gegen 10, eine dreiviertel Stunde später ist alles aufgebaut und die Funktionen sind erklärt. Mein Vater, der die Hilfsmittel gar nicht haben will, findet sie dann doch überraschend gut und akzeptiert sie sofort. Vor allem das Bett, weil er bei dessen Betthöhe viel besser alleine aufstehen kann und weil sich Kopf- und Fußteil elektrisch hochstellen lassen und er dann im Bett sitzend Fernsehen gucken kann. Er ist erwachsen und darf, wenn er nicht schlafen kann, auch spät abends und sogar nachts Fernsehen gucken. Cola trinkt er sowieso, Chips isst er auch gerne – da fehlt nicht viel zur Erfüllung eines Kindheitstraumes. Wobei er sich als Kind über diese Möglichkeit weit mehr gefreut hätte als jetzt. Ich freue mich über den leichten und wendigen Rollstuhl, denn damit werde ich meinen Vater in zwei Tagen zu seinem Arzttermin fahren können und muss nicht das alte Modell aus der Garage nehmen, das schwergängig ist und keine Fußstützen mehr hat.

Gegen 12 Uhr bin ich auf dem Rückweg, fahre aber eine kleine Kurve zum schwedischen Möbelhaus, weil jetzt noch ein Beistellwagen neben dem Bett benötigt wird, eine Lampe zum Festklemmen, Nachtlichter für diverse Steckdosen und Bettlaken in der neuen Matratzengröße. Als ich alles habe und endlich nach Hause fahre, fühle ich mich wie in einem Film. Das Autoradio läuft und liefert passend die Filmmusik, und ich gucke mir gespannt zu und frage mich amüsiert, was wohl als nächstes passieren wird. Als wäre ich es nicht selber, die ständig unterwegs und in Action ist. Interessanterweise bin ich seit meinem krank im Bett verbrachten Tag voller Energie. Allerdings wie unter Aufputschmitteln. Ganz wach, sehr schnell, gut gelaunt, aber trotzdem etwas neben der realen Welt, die irgendwo anders abläuft. Im Moment trägt mich das gut über den Stress, auf Dauer ist das vermutlich nicht gut. Dass ich immer wieder Sachen suche, die ich gerade abgelegt habe, dabei aber nicht registriert habe, wo, zeigt schon, dass das Hirn sich nur noch auf die Hauptaufgabe konzentrieren möchte.


Weil der Mittwoch mein üblicher Papa-Tag ist, bin ich schon wieder früh bei ihm. Als die Ergo-Therapeutin kommt, stellt sie fest, dass die neu ausgestellte Verordnung des Hausarztes, die aus der Physio- eine Ergobehandlung gemacht hat, falsch ausgefüllt ist, weil die Kürzel immer noch für eine Physiobehandlung gelten. Da werde ich morgen schon wieder zum Hausarzt fahren müssen. Es hört nicht auf. Mein Vater ist immer noch schnell erschöpft, so dass ich besorgt bin, wie er seinen morgigen Urologenbesuch mit Hin- und Rückfahrt und eventueller Warterei im Wartezimmer schaffen kann. Ist es sinnvoll, wenn ich ihn im Rollstuhl vom Parkhaus zur Praxis, durch Wartezimmer und Arztgespräch und wieder zurück schleppe, wenn er vermutlich weder untersucht wird, noch gut bewertbare Angaben machen kann? Momentan kann ich seine Probleme deutlich präziser als er selber schildern. Ich rufe in der Praxis an, schildere die Situation und frage, ob ich alleine zum Gespräch kommen kann. Kann ich.

Mit Aleksandra geht es im Supermarkt einkaufen, dann hole ich die mitgebrachte Heckenschere aus dem Auto und kürze die sich ausbreitenden Büsche im Grünstreifen neben dem Haus. Nach Angaben meines Vaters muss das die Stadt machen. Sie macht es aber gerade nicht – ich bin mir gar nicht sicher, ob sie es überhaupt machen muss – und mein Vater macht sich im Gegenzug Sorgen, weil der Grünstreifen zuwächst. Da gehe ich jetzt selber ran. Meine Heckenschere ist super. Schnell liegt der Bürgersteig voll mit vorwitzigem Grün. Die vielen Efeuranken, die sich ebenfalls ihren Weg auf den Bürgersteig suchen, muss ich dann allerdings mühsam mit der Hand ausreißen. Versteckt im Grün finde ich zwei weggeworfene leere Bierflaschen. Hurra! 30 Cent Pfand! Da lohnt sich die Arbeit doch. Als ich mitten im Schneiden und Ausreißen bin, beginnt es zu nieseln, aber das ist mir jetzt auch egal. Vorher schätze ich, dass ich eine halbe Stunde Arbeit haben werde. Nach eineinhalb Stunden ist das Grün gestutzt, die Straße gefegt, die Biotonne voll und ich bin ziemlich durchgefeuchtet.


Am nächsten Morgen starte ich schon wieder früh zu meinem Vater und habe eine To-do-Liste dabei. Ich muss beim Hausarzt erklären, dass die geänderte Verordnung erneut geändert werden muss, Trockenerbsen kaufen, die es am Vortag im Supermarkt nicht gab und die für die von Papa gewünschte Erbsensuppe gebraucht werden, den Arztbesuch beim Urologen anstelle meines Vaters machen, den Gaszähler wegen Anbieterwechsel ablesen und ein wenig Kleinkram erledigen.

Ich habe einen Glückstag. Es geht alles schnell und problemlos. Ohne jede Nachfrage wird beim Hausarzt die Verordnung neu ausgestellt, im ersten Geschäft gibt es Trockenerbsen, ich finde danach einen kostenlosen Parkplatz, bin pünktlich beim Urologen, komme nach wenigen Warteminuten dran, der Urologe ist total sympathisch und verschreibt ein Medikament für meinen Vater, das Medikament ist wundersamerweise unmittelbar danach bei der Apotheke schon freigeschaltet, mein Vater ist insgesamt besser drauf als in der letzten Woche, ich denke an das Ablesen des Gaszählers und erledige schnell noch den Kleinkram. Nebenbei bin ich froh, dass ich meinen Vater nicht zum Besuch beim Urologen im Rollstuhl mitgenommen habe, denn es gibt zwar einen Fahrstuhl zur Praxis im 1. Stock, davor aber fünf Treppenstufen.

Kurz vor 12 fahre ich schon wieder nach Hause. Weil es in diesem Jahr so nass und vorwiegend kühl war, sind die Bäume immer noch dicht grün, was für Ende September ungewöhnlich ist. Nur an wenigen Bäumen sind erste gelbe Blätter zu sehen. Auf dem Heimweg fahre ich unter einer grünen Baumallee entlang, da pustet ein Windstoß plötzlich hunderte von gelben Blättern heraus. Sie segeln vor mir auf das Auto, die Windschutzscheibe und den Boden und ich denke etwas wehmütig: Der Herbst ist da.

Zuhause steige ich aus und der Milan fliegt über mir. Den habe ich im Sommer zum ersten Mal hier gesehen, seitdem kreist er öfter sein Gebiet ab. Ich habe ihn wegen seiner Größe zuerst für einen gefährlichen Jäger auch größerer Kleintiere gehalten, aber er frisst eher Mäuse, Aas und sogar Regenwürmer.

Am Nachmittag ist das Wetter herbstlich verregnet, was ich allerdings eher gemütlich als blöd finde. In diesem Jahr ging der Sommer ziemlich an mir vorbei. Erst war er nicht da und seit der ersten Augustwoche bin ich mit meinem Vater beschäftigt und habe wenig Gelegenheit, längere Zeit draußen zu sein. Jetzt beginnt der Herbst. Der nächste Sommer kommt. In einem halben Jahr. Ungefähr.

Am späten Abend schickt Aleksandra ein Foto. In der letzten Woche habe ich im Garten meines Vaters eine Ratten-Lebendfalle aufgestellt, in der jetzt zwei Gefangene sitzen. Vorher hatte ich zweimal schon eine eher kleine Ratte in die Büsche laufen sehen, Aleksandra hatte „ein groooße Ratte“ auf der Wiese gesehen und einmal kletterte eine in ihrer Nähe vom Nachbargarten aus über die Mauer in den Garten meines Vaters. Zu essen für Ratten gibt es dort nichts außer Gras und Blumen, darum gehe ich davon aus, dass die Ratte – oder die Ratten – ihr Zuhause in einem der anderen Gärten haben. Prima, dass jetzt zwei Exemplare in der Falle sitzen, blöd, dass ich sie dort nicht sitzenlassen kann und darum am nächsten Morgen schon wieder zu meinem Vater fahren muss. Zum Glück regnet es nicht mehr und die Nacht soll trocken bleiben. Aber hoffentlich haben die beiden Ratten in der Falle keine Panik und sind dann morgen früh mit den Nerven fertig.


Am nächsten Morgen fahre ich sehr früh zu meinem Vater. Aleksandra empfängt mich mit: „Kein Ratte, sind zwei Maus“. Ich gehe raus zur Falle, in der eines der Geschöpfe mich wach und neugierig ansieht und das andere zunächst daran arbeitet, sich durch Bewegungslosigkeit unsichtbar zu machen. Beiden geht es gut, sie sind munter und nicht gestresst. Die Neugierige beginnt sogar, sich entspannt zu putzen.

Es sind junge Ratten, entscheide ich, denn wenn das Mäuse wären, wären es Turbo-Exemplare mit sehr großen Händen und Füßen. Ich finde sie sehr niedlich, verstehe aber, dass man sie nicht in Haus und Garten haben möchte. Vor allem nicht, wenn sie sich alle paar Wochen vermehren können. Ich gebe den beiden nochmal einige Körner. Während der Nacht haben sie das in der Falle ausgelegte Brot, den dicken Keks mit Marmelade, das Vogelfutter und ein Stück Schokolade komplett aufgefressen. Nur den halben Mini-Babybell-Käse haben sie nicht mal angebissen. Vermutlich haben sie den für Plastik gehalten, was ich gut verstehen kann. Bei Käse scheinen die beiden Ratten und ich den gleichen Geschmack zu haben.

Vorsichtig decke ich die Falle mit einem Tuch ab und stelle sie sicherheitshalber in einen hohen Karton. Das würde mir jetzt noch fehlen, dass sie im Auto aus der Falle entkommen und im Fußraum herumsausen. Auf dem Rückweg halte ich an einem weitläufigen Wald- und Wiesengelände. Kaum setze ich die Falle ab und entferne das Tuch, werden die beiden ganz aufgeregt. Sie strecken sich am Gitter hoch und gucken immer auf die Waldseite. „Guck ma! Guck ma! Uii!“ scheinen sie zu sagen.

Ich öffne die Klappe und sie kommen kein bisschen hektisch, sondern eher gut gelaunt heraus – sofern ich gute Laune bei kleinen Ratten erkennen kann – und laufen neugierig los. Wusch, wusch, wusch – sind sie raschelnd unter den Blättern verschwunden. Viel Glück, ihr beiden! Das Leben bleibt ein Risiko, aber hier habt ihr noch eine Chance auf eine gute Zeit. Die Falle werde ich wieder im Garten aufstellen, denn wo zwei kleine Ratten sind, sind vermutlich noch mehr.


In dieser Woche habe ich 27 Stunden nur für meinen Vater verbracht. Sie teilen sich auf in Fahrzeit, Telefonate, Erledigungen, Bürosachen und vor allem vor Ort sein. Eineinhalb Stunden davon waren wegen der Ratten, was nur am Rand mit meinem Vater zu tun hat, aber natürlich trotzdem etwas ist, das ich für ihn erledige. In den letzten acht Wochen seit dem Schlaganfall meines Vaters war ich pro Woche immer zwischen mindestens 15 und 25 Stunden für ihn und mit ihm beschäftigt. Nicht gerechnet sind die Stunden, in denen ich nachts nicht schlafen konnte, weil ich mir Gedanken machte oder überlegte, wie etwas zu machen und zu organisieren ist. Insgesamt ist das locker eine Halbtagsstelle, bei der die Arbeitszeiten oft spontan sind, ich eine 24-Stunden-Rufbereitschaft habe und keine Bezahlung bekomme.

Zum Glück haben wir die Betreuungskraft, die sich um die tägliche Versorgung und Begleitung meines Vaters sowie den gesamten Haushalt kümmert. Ansonsten müsste ich rund um die Uhr bei ihm bleiben oder er müsste sofort ins Pflegeheim umziehen. Eine Betreuungskraft ist aber nicht zuständig für Arztbesuche, Krankenkassenanträge, Kleidungskäufe, den Heizkessel, der Wasser verliert, Finanzen, Kündigung der Tageszeitung und die Beurteilung welche Post aus dem Briefkasten wichtig ist und welche nicht. Da wird auch weiterhin genug zu tun sein.

Dass ich gerade nicht aktiv und konzentriert an eigenen kreativen Projekten arbeite, ist kein Wunder. Es kostet alles so viel Energie und ich habe ja auch eigene Sachen zu tun wie Wäsche, Haushalt, kochen, Garten, so dass ich abends froh bin, einfach nur frei zu haben und vor dem Fernseher zu sitzen. Aber immerhin hole ich mir am Donnerstagabend endlich mal wieder mein Strickzeug vor den Fernseher und stricke während des Guckens Socken. Es geht aufwärts. Vielleicht nähe ich sogar bald wieder an der Klappmaulkatze weiter, die ich inzwischen komplett zur Seite gelegt habe. Dass ich überhaupt wieder an sie denke, ist schon bemerkenswert.