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Blog 828 – 10.03.2024 – Auftrennen, Vergängliches und Nachbarn

Das Auftrennen einer Nähmaschinennaht dauert deutlich länger als das Nähen derselben. Das stelle ich beim Arbeiten am Kleid fest. Es ist natürlich eine Frage der Konzentration, ob ich versehentlich ein Stoffteil auf die falsche Seite lege oder – schon wieder – den Reißverschlussschlitz blöderweise komplett zunähe. Dabei arbeite ich wirklich sorgfältig, stecke alles vorher gut ab und mache schöne, saubere Nähmaschinennähte. Wenn die aber an falschen Stellen sind, weil ich auf die Schönheit der Nähte fixiert bin und dabei die Anordnung der Teile übersehe, muss ich die gelungene Naht eben mühsam wieder aufbröseln. Immerhin gelingen die Ziernähte, vor denen ich große Angst hatte und die ich erst einfach weglassen wollte, erstaunlich gut. Nicht perfekt, Ziernahtprofis werden die Augenbraue heben, aber viel besser als von mir selber erwartet.

Was ein Reißverschlussfüßchen ist, weiß ich jetzt und ich finde sogar zwei Stück in einem alten Nähmaschinen-Ersatzteile-Kästchen meiner Mutter. Dann stelle ich fest, dass die Teile nicht an meine Nähmaschine passen. Und nun? Kurzentschlossen nähe ich den langen Reißverschluss mit der Hand ein. Das dauert ein bisschen, geht aber.

Die Ärmel sind dann etwas frickelig beim Einsetzen, aber auch das klappt gut und das Kleid ist fast fertig. Die Säume muss ich noch umnähen und Details wie Knöpfe, Gürtel und Kragenschleife fertigmachen, aber das ist ja alles kein Problem. Mein Kleid hat durchaus kleine Nähfehler, nicht alle Nähte sitzen perfekt und der Reißverschluss krumpelt ein ganz kleines bisschen, aber da wird schon keiner so genau hinsehen. Insgesamt bin ich mit dem Nähergebnis mehr als zufrieden. In diesem Kleid werde ich meine Nil-Kreuzfahrt auf der kleinen Theaterbühne machen. Die Nähfehler spielen sich weg.

Ich brauche für den 1. Akt aber auch noch einen Rock, den ich mir natürlich ebenfalls selber nähen möchte. Aber was ist ein Rock, wenn ich schon ein Kleid geschafft habe! Ich schneide mir die Rockteile aus dem dafür gekauften Stoff und mache dabei zwei Teilen etwas breiter, weil ich anstelle eines hinteren Reißverschlusses eine vordere Knopfleiste haben möchte. An der bastel ich etwas herum, bügle spontan Vlieseline ein, um sie fester zu machen, klappe Stoffränder um, setze immer mal wieder Nähte und bastel mir auf ähnliche Weise auch noch einen Bund zusammen. Am Ende nähe ich sogar noch die Knopflöcher mit der Nähmaschine, was Fitzelarbeit ist, denn die Maschine hat keine Knopflochautomatik. Wow! Wenn man nicht näher und genauer hinguckt, sehen die wie normale Knopflöcher aus.

Der Rock muss noch gekürzt werden und auch er ist nicht perfekt genäht, aber ich bin trotzdem sehr zufrieden. Wie gut, dass ich mich mutig und risikobereit ans Nähen getraut habe! Zum Rock werde ich eine fertig gekaufte Bluse tragen. Ich bin ja nicht wahnsinnig und flippe jetzt mit meinen Nähzielen komplett aus.


Nachdem der Februar für mich probenfrei war, geht es in dieser Woche wieder zwei Mal zur Nil-Probe. Inzwischen läuft es in den Szenen deutlich zügiger, und manchmal denke ich bei meinem Auftritt, dass ich Sätze überschlagen haben muss, weil es so schnell geht und der Dialog schon fast vorbei ist.


Bei meinem Vater habe ich etwas Zeit, die nächsten Diakästen durchzusehen. Alles ist vergänglich, das merke ich wieder sehr deutlich. Ich betrachte Bilder von Omas, Opas, Tanten und Onkeln, die dort aktiv und mitten im Leben sind, und auf vielen Bildern jünger als ich jetzt. Sie wandern, schwimmen, feiern oder stehen lachend in Gruppen. Manchmal stehe ich dazwischen. Es kommt mir alles so vertraut und normal vor, als wäre es erst vor wenigen Jahren gewesen. Inzwischen sind aber fast alle der mir so vertrauten Personen verstorben. Ich verstehe meine Oma immer besser, die, nachdem ihre Eltern, Onkel, Tanten und dann auch die letzten ihrer vielen Geschwister verstorben waren, sagte: „Jetzt bin ich ganz allein.“ Damals dachte ich: „Sie hat doch uns!“ Heute weiß ich, dass es der Verlust aller Bezugspersonen ihrer Kindheit und Jugend war, und dass sie niemanden mehr hatte, mit dem sie: „Weißt du noch …“ sagen konnte.

Natürlich finde ich auch wieder Bilder von mir. An das rote Kleid mit den Gänsen kann ich mich sofort erinnern, und weiß noch, dass ich das damals ganz besonders schön fand.


Im Garten werkel ich an der neuen Ecke, die als Sichtschutz möglichst komplett zuwachsen soll. Provisorisch lege ich einige Randsteine, um einen kleinen Pfad freizulassen. Der ist leicht geschwungen, um die Sichtachse zu brechen. Jetzt soll alles kräftig wachsen, so dass ich irgendwann mal die Zweige rechts und links wegschneiden muss, um mich über den Pfad quetschen zu können.

Beim Wort „Nachbar“ fällt mir ein, dass ich in der Grundschule mal einen kurzen Aufsatz geschrieben habe, in dem ein Nachbar vorkam, Meine Lehrerin war amüsiert, als sie mir das Heft zurückgab und ich merkte genau, dass sie sich ein Lachen verkniff. Ich hatte einen rot angestrichenen Fehler und sie sagte, dass der „Nachbar“ ohne „t“ geschrieben werde. Warum sie das so lustig fand, konnte ich mir nicht erklären, denn ob „Nachbar“ oder „Nachtbar“, das war doch fast gleich.

Während ich im Garten grabe, fliegen krächzende Kranichformationen am Himmel entlang. Ich bin immer wieder berührt, wenn ich sie höre und gucke ihnen lächelnd nach. Aber dass die nach dem langen Weg immer noch pausenlos quatschen und kommentieren können, ist schon verwunderlich. Der vorwurfsvolle Klang ihres Krächzens lässt mich an Kommentare denken wie: „Drängel nicht so!“, „Menno, mir tun die Flügel weh!“, „Du atmest mir die ganze Zeit in den Nacken!“ und „Jetzt halt doch mal die Klappe! Du redest seit Spanien ununterbrochen!“

Im Vorgarten ist zwischen vielen grünen Tulpenblättern der erste vorsichtige Tulpenkopf zu sehen. Noch einige warme Tage, dann wird es losgehen.