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Blog 845 – 07.07.2024 – Ghettowohnhaus, Trampelpfad und Holzbein

Am Sonntag bleibt die Reisetasche unberührt so stehen, wie ich sie am Vorabend abgestellt habe. Ich habe eine lange Woche hinter mir und keine Lust, sofort wieder mit dem Aus- und Wegräumen zu beginnen. Wofür gibt es den Montag? Außerdem bin ich ab jetzt in Ferienstimmung. In den letzten Wochen war bei unterschiedlichen Projekten viel nacheinander, abwechselnd und parallel zu tun. Zwischenzeitlich drohte, dass einiges gleichzeitig stattfindet, was mehr als blöd gewesen wäre. Aber es hat alles gut geklappt und ging zeitlich wunderbarerweise genau auf. Jetzt sind die Nilvorstellungen, das Fuchsbauen, die Lesungen mit Puppenspiel und die Drehtage abgeschlossen. Ich kann tief Luft holen, meine aufmerksame Anspannung runterfahren und den konzentrierten Blick auf den Kalender in einen flüchtigen ändern.

Am frühen Nachmittag fahre ich zu meinem Vater, beziehungsweise in sein Haus, denn er ist mit dem Bus auf der Rückfahrt von seiner Seniorenreise und wird irgendwann ankommen. Haustürservice. Leider ist er über sein Handy nicht zu erreichen, meldet sich aber auch nicht selber, um mal den Stand der Dinge, beziehungsweise die geplante Ankunftszeit durchzugeben. Bei mir Zuhause habe ich keine Ruhe mehr, weil ich vor Ort sein möchte, wenn er ankommt, aber das kann wegen Stau, hundertzwanzig Toilettenpausen oder einer Mittagessenrast auch noch einige Stunden dauern. Ich bin noch nicht lange da, da kommt sein Anruf, dass er in einer halben Stunde ankommen wird. Zufällig ziemlich gutes Timing. Als er kommt, trage ich Koffer, Tasche und Rollator rein, meine Schwester hatte ihm vorher schon Essen in den Kühlschrank gestellt – und auch das ist abgehakt: Papa ist wieder Zuhause und erstmal versorgt.


Am Montag packe ich meine Reisetasche aus, werfe die Waschmaschine an, sortiere Fotos, fülle die Biotonne mit Gartenmaterial und lese im Internet über das Warschauer Ghetto. Dabei entdecke ich, dass nicht nur der ins Bürogebäude integrierte Mauerrest zum Ghetto gehörte, sondern auch ein kleines Gebäude links daneben und ein großes, leeres Wohnhaus gegenüber.

Ich hatte beim Anblick des Wohnhauses kurz überlegt, aber mit Baustelle, Dixiklo und Graffitis ringsherum wirkte es eher lieblos behandelt, was man ja nicht mit einem Mahnmal machen würde. Außerdem sah das angebaute Nebengebäude ebenfalls verlassen und heruntergekommen aus, hatte aber eine Satellitenschüssel vor einem Fenster. „Also eher nicht“, dachte ich. Es hätte auch von der Lage her nicht gestimmt … aber, Moment mal … Ich vergleiche auf Warschau-Karten alte Ghettogrenzen mit den heutigen Straßen und erkenne, dass ich nicht vor der Außenmauer des Ghettos stand, sondern vor der Innenmauer, was es plötzlich berührender macht. Das Haus war tatsächlich ein Wohnhaus im Ghetto, ich befand mich in der letzten Woche also im abgesperrten, jüdischen Teil. Wie schade, dass das alles nicht klar und informativ vor Ort angegeben ist.


Am Dienstag fällt mir plötzlich ein, dass ich nicht erst am Samstag ein gemeinsames Abendessen mit der Nil-Theatergruppe habe, sondern schon am Mittwoch. Puh, das wäre blöd gewesen, wenn sie mich am Mittwochabend irgendwann angerufen hätten, wo ich denn bleibe. Genauso blöd, wie wenn ich am Samstag alleine im Restaurant sitzen würde und mich wundere, dass niemand kommt. Dementsprechend sitze ich am Mittwochabend pünktlich beim Italiener.

Wir sind sofort wieder völlig vertraut als Gruppe zusammen. Hin und wieder fliegen Zitate aus dem Stück über den Tisch, und als „Jacky“ scharf: „Kellner!“ ruft, zuckt der „Doktor“ zusammen, weil das sein Stichwort ist, um gleich auf die Bühne zu eilen, und ich atme kurz flacher, weil ich bei diesem Wort als „Christina“ unangenehm berührt neben der alkoholisiert pöbelnden „Jacky“ auf der Bühne saß und mich sofort wieder unangenehm berührt fühle. Wir sind noch voll drin und könnten vermutlich gleich loslegen und das Stück fließend durchspielen. Noch. Es hatten sich zwischenzeitlich zwei weitere eventuelle Auftrittsmöglichkeiten gezeigt, die aber im Januar 2025 und irgendwann im Verlauf des Jahres 2025 liegen würden. In so vielen Monaten jeweils für einen einzelnen Auftritt alles wieder auffrischen? Und dann als „Gastspiel“ noch besonders gut und fließend spielen? Ich glaube, das macht mehr Stress als Spaß. Zum Glück ist die Mehrheit dagegen und wir schließen das Nil-Stück jetzt gut und mit einem schönen Gefühl endgültig ab.

Die Verabschiedung nach mehr als vier Stunden Theaterstück-Abschlussessen ist nicht traurig. Zum einen sind einige Leute der Gruppe schon zusammen in neuen Projekten unterwegs, zum anderen treffen wir uns bald schon wieder zum gemeinsamen Videogucken des Mitschnitts.


Der Sommer ist immer noch nicht da, es regnet weiterhin sehr viel und bleibt oft kühl. Ich finde das alles gar nicht schlimm. Der Garten wächst grün und wild und sieht frisch und erholt aus. Die Wassertonnen laufen über und ich habe noch nicht ein Mal den Gartenschlauch angestellt. Ein bisschen mehr Sonne und ein bisschen wärmer wäre schon schön, aber ich will nicht meckern. Dem Boden und den Pflanzen tut so ein Jahr mal gut. Der Klimawandel läuft, und wir werden uns in kommenden langen Dürrewochen gerne an verregnete Sommer zurückerinnern. Vermutlich sagen dann dieselben Leute, die jetzt behaupten, dass es früher in jedem Sommer heiß und sonnig war: „Früher hat es im Sommer immer viel geregnet und alles war grün!“

Im Garten wächst es nicht nur grün, sondern üppig und an manchen Stellen schon zu viel. An einem Nachmittag schnappe ich mir meine Machete und haue einen Pfad durch den hinteren Teil des Gartens. Na gut, es ist eine Astschere, aber ich muss mir den Weg tatsächlich mühsam freischneiden. Dabei stelle ich fest, dass auch die Vegetation der Nachbargärten explodiert. Das oben an meinen Garten angrenzende Grundstück verwildert auf seinen letzten Metern und schickt durch den Maschendrahtzaun lange Brombeerranken und Efeu zu mir herüber. Genau das, was ich bei mir im Garten weitmöglichst am Wachsen hindern möchte. Es sieht nicht danach aus, als würde sich bei den oberen Nachbarn in den nächsten Jahren jemand um das wuchsfreudige Grün kümmern und es bändigen, darum werde ich meinen Trampelpfad weiterhin zu beiden Seiten freihalten müssen.

Sollten sich Prinzen wie bei Dornröschen durch die dichten Brombeerranken der Nachbarn kämpfen und dann stolz über den Zaun steigen, würde ich die nicht haben wollen. Die hätten nämlich einfach einmal um den Block laufen und ganz bequem auf der anderen Seite bei mir an der Haustür klingeln können. Blöde Prinzen braucht niemand.


Am Ende der erholsamen und ruhigen Woche packe ich schon wieder meinen Koffer und gebe hinein: Nadeln. – Nadeln und Garn. – Nadeln, Garn und Schere … In der nächsten Woche geht es für fünf Tage nach Bochum ins Figurentheater-Kolleg, wo es den Kurs: „Das genähte Gesicht“ gibt. Der könnte unter diesem Titel auch im Schönheitssektor stattfinden und plastische Chirurgen begeistern. Er wird aber von Mechtild Nienaber gegeben, die wunderbare Theaterfiguren gestaltet. Auch beim Puppenbau geht es um straffe Lider, prall gefüllte Wangen und hinter den Ohren vernähte Haut. Ich bin gespannt. Da drei weitere Puppenbau-Gang-Mitgliederinnen im Kurs sein werden, ist jetzt schon klar, dass wir nicht nur sehr viel nähen, sondern zu viert auch sehr viel lachen werden. Ich fühle mich, als würde ich in die Ferienfreizeit fahren.


Um es spannend zu machen, haue ich mir am Freitagabend noch schnell den kleinen Zeh voll vor ein Stuhlbein. Aber so was von voll. Der Zeh sieht nach dem Aufprall erst weiß aus und steht einige Millimeter ab – ein irritierender Anblick -, dann wird er dicker, heiß und rot. Laufen kann ich, aber etwa so elegant wie mit einem grob angeschraubten Holzbein. Barfuß. Wenn ich einen Schuh anziehe, schießen mir Tränen in die Augen, ich jammere keuchend und kann keinen Schritt gehen. Immerhin wird es langsam besser. Vielleicht passt morgen sogar schon wieder ein Schuh. Glück bei allem ist, dass das nicht vor den Drehtagen passiert ist, sondern vor den Nähtagen. Ich muss nicht laufen, rennen, aufspringen. Herumsitzen ist genau das, was ich jetzt brauchen kann.