Blog 892 – 01.06.2025 – Hitchcock, Wasser und Laubennächte
Den Sonntag verbringe ich in der Eifel und klopfe an meinem Ammoniten herum. Am Ende gefällt er mir gut, aber ich weiß jetzt auch, dass es mir noch mehr Spaß macht, an Figuren zu arbeiten, die nicht so gleichmäßig sein müssen und die ein Gesicht haben. Allerdings hatte ich mich diesmal vor dem Wochenende ermahnt: „Nichts mit Gesicht! Du musst mal was anderes machen!“ Habe ich jetzt und war auch gut. Beim nächsten Mal darf es wieder etwas mit Kopf und Händen sein.

Zuhause wartet am Abend nicht nur der Gatte, auch beide Söhne sind da – der Frankfurter für zwei Tage, der Düsseldorfer nur für einige Stunden. Wir wollen die kurze gemeinsame Zeit nutzen, auf dem Gartengrill grillen und danach noch etwas spielen. Genau das machen wir. Das Spielen findet mit zwei lange nicht mehr eingesetzten Brettspielen in der neu renovierten Laube statt. Mit viel Spaß.

Es ist immer wieder erstaunlich: Beide Söhne führen ihre eigenen Leben, aber wenn wir zu viert zusammen sind, ist es völlig vertraut, locker und wie früher. Wir waren aber immer ein gutes Team. Oder wie einer der Söhne im Pubertätsalter damals sagte: „Ich müsste mich jetzt von euch distanzieren, aber ihr macht so coole und spannende Sachen, da bin ich lieber mit dabei, als alles doof zu finden.“ Kluge Entscheidung. Am späten Abend bringe ich den einen Sohn nach Düsseldorf, am nächsten Tag den anderen nach Frankfurt. Am Dienstag bin ich nach dem langen Steinhau-Wochenende und der vielen Fahrerei, die ich seit Freitag gemacht habe – insgesamt 1000 km – ganz schön platt.
Am Mittwoch-Vater-Tag steht schon wieder ein Arzttermin an, diesmal beim Hausarzt. Ach, wie viel Zeit ich seit den letzten vier Jahren erst mit meiner Mutter, jetzt mit meinem Vater in Wartezimmern absitze. Wir sind pünktlich zum Termin da, kommen aber erst nach 45 Minuten dran. Um weitere Ergo-Behandlungen verordnen zu bekommen, müsste mein Vater jetzt auch noch zu einem Neurologen. Abgesehen davon, dass es bei den umliegenden Neurologen keine zeitnahen Termine gibt, müsste ich zwischendurch mit meinem Vater und wegen der Abholung jeder neuen Verordnung dort hinfahren. Und in jedem neuen Quartal erst zu meinem Vater, um seine Krankenkassenkarte abzuholen, dann zur Praxis, die in irgendeinem anderen Ort liegen wird, dann zurück zu meinem Vater, um ihm die Karte zurückzugeben und anschließend wieder nach Hause. Unter zwei Stunden ist das keinesfalls zu machen, vermutlich würde es drei dauern.
Vor 9 Uhr bin ich am Morgen bei meinem Vater, nach 18 Uhr fahre ich weg, mache aber noch einen Halt am örtlichen Friedhof, um das Grab meiner Großeltern in Ordnung zu bringen. Das ist zum Glück pflegeleicht angelegt und macht nur wenig Arbeit. Früher hat sich meine Mutter darum gekümmert, inzwischen kann es auch mein Vater nicht mehr, darum habe ich es auf meine To-do-Liste gesetzt. Gräber, um die sich sichtlich niemand kümmert, und aus denen schon halbhohe, wilde Bäume wachsen, finde ich sehr traurig. Als ich an der Trauerhalle vorbeikomme, werde ich plötzlich an Hitchcocks „Vertigo“ erinnert. Ich kann mir sofort zwei kämpfende Gestalten oben im Glockenturm vorstellen, dazu wild läutende Glocken, Gerangel und dann fällt einer mit einem lauten Schrei runter. Ich habe einfach zu viel Phantasie.

Weil die Gartenlaube jetzt eine zur Liegefläche ausklappbare Sitzbank hat, handele ich logisch, klappe am Abend die Sitzbank aus, lege eine Matratze darauf, hole mein Bettzeug und schlafe in der Laube. Die Katze findet das ganz wunderbar, springt auf meine Decke, um sich kurz streicheln zu lassen, und rollt sich dann daneben auf der Bank ein. Allerdings hat sie in der Nacht auch zu tun und verschwindet immer mal leise. Es weht eine leichte Brise, ab und zu ruft klagend der Pfau, der auf einem Grundstück unten auf den Feldern lebt, ich sehe Fledermäuse blitzschnell über den Garten fliegen, schlafe irgendwann selig ein und wache am frühen Morgen, noch vor halb Sechs, durch das laute Geschrei und durchdringende Gepiepse der Vögel auf. Bisschen früh, aber ich liebe es.

Auch am nächsten Abend schlafe ich draußen. Es ist offiziell Christi-Himmelfahrt, für viele aber alkohollastiger Vatertag. Als ich mich hinlege, höre ich vom Dorfplatz leise Stimmen und bin recht erstaunt, dass es dort ungewohnt zivilisiert und ohne laut hämmernde Musik zugeht. Kurz danach scheint der Alkoholpegel aber doch das „Mir-doch-egal“-Level erreicht zu haben. Grölende Jungmänner-Stimmen skandieren heisere Fußballgesänge mit viel „Hey, hey, hey!!“ und ich frage mich, was das für ein Männlichkeitsbild ist, bei dem man angetrunken in der Nacht rumsteht, wie ein Urmensch brüllt, andere Leute bewusst vom Schlafen abhält und sich dabei groß fühlt. Wie armselig. Was bin ich froh, dass ich meinen Söhnen andere Werte vermitteln konnte.
Mir muss auch keiner mit „Auf dem Dorf gibt es noch eine funktionierende Gemeinschaft“ kommen. Auf dem Dorf gibt es nämlich auch große Rücksichtslosigkeit, Druck und Drohungen, wenn man nicht funktioniert, wie es verlangt wird. Das ist meistens kein Bullerbü. Ich bin davon wenig betroffen, denn ich halte mich aus den dörflichen Verflechtungen weitgehend raus, aber was mir schon von einigen alten Leuten hier erzählt wurde, die tatsächlich Angst vor Druck und Ausgrenzung haben und darum vieles hinnehmen, ist schon erschreckend.
Ich bin in einer mittelgroßen Stadt aufgewachsen. Wenn man da mit irgendwelchen Leuten im Kirchenchor nicht klarkam, wechselte man in einen der anderen Kirchenchöre. Man konnte sich höflich aus dem Weg gehen. In einem kleinen Dorf gibt es nur einen Kirchenchor, und wenn man Stress mit einem Mitsingenden hat, hat man oft auch sofort Stress mit zehn weiteren Leuten, die mit diesem verbunden sind, weil sie mit ihm im Schützenverein, im Fußballverein, bei der Feuerwehr oder dreimal verwandt sind. Zusammenleben in einer überschaubaren Gemeinschaft kann schön sein, wenn man mitmacht, aber schwierig, wenn man nicht mit allem einverstanden ist, aber unbedingt drin bleiben möchte. Wenn man – wie ich – nur zuguckt, sich die netten Leute für Kontakte raussucht und es einem völlig egal ist, was andere Leute von einem halten, ist es gut.
Zum Glück hören die Gröleinlagen gegen Mitternacht auf. Entweder hat sich jemand beschwert oder die Jungmänner haben sich müde gebrüllt. Dass sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns erkannt haben, ist nicht anzunehmen. Bis jetzt habe ich notgedrungen und übermüdet gelesen, jetzt kann ich das Buch endlich weglegen und einschlafen. Ich schlafe tief und fest, diesmal sogar etwas länger, so dass mein erster Blick beim Augenöffnen sonnig ist. Die Welt ist schräg, weil ich noch liege. Urlaubsgefühl.

Der Ammonit bekommt einen Platz im Garten. Zum Glück hatte ich am Sonntagnachmittag Zeit genug, um noch einige Kilo vom unteren Teil abzuschlagen, so dass ich ihn jetzt mit Mühe, aber alleine tragen kann.

Am Samstag schaffe ich es sogar, fast drei Stunden im Garten zu sitzen, an der Katze zu nähen und währenddessen Tee zu trinken, eine Folge vom 1000-Gesichter-plus-eins- Podcast und zwei Kein-Mucks-Krimihörspiele zu hören. Das ist nicht nur Urlaubsgefühl, das IST Urlaub.

Am Nachmittag zieht sich der Himmel zu und die angekündigte Gewitterfront kommt. Ich packe Tee, Katze und Hörspiel ins Haus und werde etwas später ziemlich nass, weil ich draußen nachsehen muss, ob die neu angebrachten Regenrinnen vorbildlich arbeiten. Tun sie. Auch bei Platschregen.

Bei meinem Vater, der 25 km entfernt wohnt, regnet es ebenfalls. In letzter Zeit kam bei Starkregen durchaus mal etwas Wasser in seinen Keller. Ich will ihn nicht darauf hinweisen, um ihn nicht nervös zu machen. Stattdessen bin aber ich nervös, weil er jeden Augenblick anrufen und Wasser im Keller melden könnte. „Klingeling“, macht das Telefon und im Display ist der Name meines Vaters zu sehen. Mir ist klar, was kommt. „Rufst du mich mal an, ich glaube, mein Handy funktioniert nicht“, bittet mein Vater. Oh, doch kein Wasser. Wir rufen ein bisschen hin und her an, dann scheint seine Klingel wieder laut gestellt. Puh, Glück gehabt. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon erneut und wieder steht sein Name im Display. Ich seufze kurz auf. Jetzt haben er und die Betreuungskraft vermutlich wirklich Wasser entdeckt. „Unter Woks“, sagt mein Vater. „Unter was?“, frage ich und überlege, ob Woks etwas mit Wasser zu tun hat. „Unter Woks ist der Rütters dran. Der Hundezüchter.“ „Ah, dank …“, beginne ich, da hat er schon aufgelegt. Die Information ist übermittelt. Es ist VOX gemeint und Martin Rütter, der allerdings kein s im Namen hat und Trainer und nicht Züchter ist. Wenn mein Vater ihn zufällig im Fernsehen sieht, ruft er immer an, damit ich auch gucken kann. Das macht er auch bei André Rieu. Aus welchen Gründen auch immer. Aber immerhin ist kein Wasser im Keller.
Die Nacht verbringe ich trotz angekündigtem Gewitter wieder in der Laube und weiß jetzt, dass Blitze draußen viel heller und Donner viel lauter als im Haus sind. Beim lauten Grollen zittert die ganze Laube. Ich habe keine Angst bei Gewitter, darum bin ich entspannt, aber neben hellen Blitzen und lauten Donnern rauscht auch der Regen und prasselt aufs metallene Laubendach. Wieder greife ich in der Nacht zum Buch, weil ich bei dem Lärm nicht schlafen kann. Danach ist es aber wieder schön mit frischer Luft, zarter Brise, Vogelgezwitscher und tiefem Schlaf unter warmer Decke. Dass die Gewitterzelle nahegelegenen Ortsteilen Wasser auf den Straßen und vollgelaufene Keller gebracht hat, erfahre ich am Morgen. Das ist nicht schön für Bewohner, die vor knapp vier Jahren die große Flut erleben mussten und dementsprechend besorgt sind, wenn es stark regnet. Auch wenn es nicht zur Flut kommt.