Blog 893 – 08.06.2025 – Häuserschnecken, Heftpflaster und Bumble-Bees
Die Katze – nicht die echte – liegt auf dem Tisch. Immer noch in Teilstücken und die Hinterbeine fehlen komplett, aber so langsam wird sie fertiger. Ich freue mich ja schon, dass ich überhaupt zwischendurch Zeit für sie finde. Es ist allerdings auch ziemlich zeitaufwendig, mit dieser Methode zu bauen. Die Ergebnisse mag ich in ihrer Einzigartigkeit sehr, aber spielbare Puppen schneller zu bauen und dann noch Zeit für das Inszenieren eines Stückes zu haben, hat auch Vorteile.

Im Garten habe ich den großen Efeubaum vor einigen Wochen abgesägt, aber die dicken Wurzeln befinden sich noch im Boden und treiben an den Reststümpfen kräftig aus. Nicht dass mich das überrascht, ich habe nur noch keine Lust und Energie gehabt, um mich an das Wurzelentfernen zu begeben. Jetzt beginne ich zumindest bei den stehengebliebenen Stümpfen und nehme mit Hilfe von Motorsäge, Spitzhacke und Gewalt weg, was sich oberirdisch entfernen lässt.

Irgendwann werde ich den Boden und den kleinen Betonweg aufhacken müssen, um an die Wurzeln zu kommen. Oder jemanden finden, der das für mich macht. Eventuell kann ich das einem der Söhne als Fitnessprogramm verkaufen. Der wäre dazu auch generell bereit, aber zeitlich ist es auch für ihn immer knapp. Da bei mir vorher aber andere Projekte anstehen, die mir wichtiger sind, mache ich mir erstmal keine Gedanken über Wurzeln. Irgendwer wird sie schon raushacken. Vermutlich ich.
Im oft feuchten Garten sind jetzt viele Schnecken unterwegs. Die gerade schön austreibenden Prunkbohnen, für die ich extra eine Rankhilfe gebaut hatte, werden in jeder Nacht sorgfältig bis zum Stiel abgefressen. Allerdings lese ich, dass fast nur die Nacktschnecken so gewaltig viel Grün abfressen und die meisten Gehäuseschnecken abgestorbene Pflanzen, Pilzfäden und Aas bevorzugen. Wie blöd, dass ich bisher auch alle Gehäuseschnecken eingesammelt und mit Schwung in die wilden Hecken auf der anderen Straßenseite umgesiedelt habe. Ab jetzt dürfen sie natürlich bleiben. Da ich sie sowieso total niedlich finde, passt das gut. Und der gefleckt-gestreifte Tigerschnegel, der eine „gute“ Nacktschnecke ist, durfte auch bisher immer schon bleiben.
Seit einigen Wochen gibt es im Garten immer öfter etwas größere Schnecken mit einer wunderschönen, knalligen Musterung auf den Häusern. Das könnten, laut Internet, gefleckte Weinbergschnecken sein. Die dürfen ab jetzt natürlich auch bleiben und verschönern den Garten mit ihrem Anblick sogar.

Am Himmel verfolgen und jagen sich ein Milan und ein – vermutlich – Bussard. Sie krächzen und schreien laut und machen ein großes Spektakel. Es sieht nach einem Revierkampf aus, bei dem keiner nachgeben will, aber vielleicht haben sie nur Streit um eine Maus und rufen: „Ich hab sie zuerst gesehen!“ „Nein, ich!“ „Hau ab!“ „Hau du doch ab!“

An zwei Tagen höre ich im Garten wieder einstündige Kein-Mucks-Krimihörspiele und nähe dabei an der Katze. Das ist Tiefenentspannung. Die Stimme von Bastian Pastewka, der vorher und nachher sehr interessant Hintergrundinformationen zu den Hörspielen und Sprecherstimmen gibt, gehört fast schon zur Katze. Vermutlich kann ich nie wieder Bastian Pastewka hören, ohne zu Nadel, Faden und einer Katze zu greifen.

Am Mittwoch bin ich wie üblich ab morgens bei meinem Vater. Post, Einkauf, Apotheke, Kochen, Garten, Unterhalten. Ich verabschiede mich am späten Nachmittag mit: „Bis morgen früh“, denn dann werde ich um 7:45 Uhr schon wieder da sein, um ihn zu seinem Zahnarzttermin abzuholen. Um 23 Uhr liege ich im Bett, stelle meinen Handywecker auf 6:15 Uhr und schlafe sofort ein. Als der Wecker klingelt, bin ich so müde, als hätte ich kaum geschlafen. Verwirrt sehe ich, dass nicht die Weckzeit, sondern der Name der Betreuungskraft meines Vaters auf dem Display steht. Habe ich beim Griff nach dem Handy versehentlich eine Taste gedrückt und wähle sie gerade an? Und wieso bekomme ich den Wecker nicht abgestellt? Ich kriege die Situation nicht ganz zusammen. Da merke ich, dass sie mich gerade anruft. So früh am Morgen? Verwirrt nehme ich den Anruf an und höre sie sagen: „Wir brauchen Krankenwagen, Papa ist die Treppe runtergefallen.“ „OK, ich rufe einen“, sage ich und sie legt auf. In dem Moment sehe ich, dass es 23:25 Uhr ist. Ich habe gerade mal 20 Minuten geschlafen. Aber jetzt bin ich hellwach.
Während ich in der Nacht die knappe halbe Stunde zum Haus meines Vaters fahre, weiß ich nicht, ob er leicht verletzt ist, schwer oder schon gestorben. Das ist ein ziemlich blödes Gefühl. „Die Treppe runtergefallen“ – was heißt das? Zwei Stufen oder komplett? Mit dem Kopf zuerst oder langsam gleitend? Und was macht er nachts an der Treppe? Als ich ankomme, ist er schon mit dem Krankenwagen weg. Die Betreuungskraft ist ziemlich geschockt und sagt, dass er ganz weiß im Gesicht war, nicht laufen konnte und am Arm geblutet hat. Anscheinend hat er aber gesprochen und ganz dramatisch scheint es nicht zu sein. Ich fahre sofort zum örtlichen Krankenhaus. Da warte ich erstmal mehr als zehn Minuten vor der leeren Anmeldung, bis jemand kommt. Ich sage den Namen meines Vaters, der Krankenpfleger blickt auf den Computer und seufzt: „Oh, nein!“ Nach einer kurzen Schrecksekunde verstehe ich, dass das Computerprogramm das Problem ist und nicht mein Vater.

Als ich den Behandlungsraum betrete, liegt mein Vater wach und munter auf einer Liege und bekommt gerade den Oberarm verbunden. Die Haut ist etwas abgeschürft und es blutet. Ansonsten ist er unverletzt. Es stellt sich heraus, dass er bis zum späten Abend ein Fußballspiel im Fernsehen angeguckt hat, ihm beim Aufstehen schwindelig wurde und er beim Laufen am Rollator wohl unmittelbar neben der Treppe kurz weggeklappt ist. Wie er es geschafft hat, vier Stufen bis zum ersten Absatz runterzufallen, ohne sich ernsthaft zu verletzen, bleibt mysteriös. Die Beine bewegen kann er inzwischen auch wieder. Wie und warum das alles passiert ist, ist ihm unerklärlich.
Die Ärztin fragt ihn, ob er sich erinnere, auf den Kopf gefallen zu sein. „Ja“, antwortet mein Vater. Sie guckt ihn alarmiert an. Er ergänzt: „Das bin ich schon oft im Leben.“ Sie guckt weiter angespannt und ich erkläre: „Er macht einen Witz.“ Mein Vater grinst vergnügt und sie entspannt sich. „Stellen Sie eine auffällige Veränderung an ihm fest?“, fragt sie mich. „Nein, er ist wie immer.“ Während er noch eine letzte Untersuchung bekommt, ob der Kopf nicht doch betroffen ist, fahre ich zu ihm nach Hause und hole seinen Rollstuhl, denn danach werde ich ihn mitnehmen können.
Zusammen mit dem Rollstuhl sitze ich etwas später alleine im Behandlungszimmer und warte, dass er zurückgebracht wird. Es ist 2 Uhr morgens. Ich bin wach, jetzt aber gelassen, denn die Aktion „Treppe runterfallen“ ist ja wohl mit bestmöglichem Ergebnis ausgegangen.

Während ich warte, sehe ich an der Wand ein kleines Kreuz hängen, neben dem ein ein dürrer Palmzweig ganz pragmatisch mit medizinischem Heftpflaster befestigt ist. Passend zum Krankenhaus. Ich mag so was.

In der letzten Woche saß ich beim Arztbesuch mit meinem Vater schon vor einer empört guckenden Steckdose. Auch schön.

Etwas später bringe ich meinen Vater zurück nach Hause, helfe noch, ihn ins Bett zu bringen und fahre über ziemlich leere Straßen nach Hause. Den Zahnarzttermin am nächsten Morgen, genauer gesagt in fünfeinhalb Stunden, werde ich verschieben müssen.
Anstatt also am nächsten Morgen sehr früh auf dem Weg zu meinem Vater zu sein, sage ich den Termin ab und bekomme einen neuen im Juli. Eigentlich war der Tag gut durchgetaktet, aber jetzt habe ich bis zum Mittag frei und fahre dann nach Hillesheim in der Eifel, wo ich mich im Café Sherlock mit zwei früheren Klassenkameraden treffe. Wir hatten zu Schulzeiten eine Band, die „Bumble-Bees“, die außer uns niemand kannte. Geprobt haben wir regelmäßig, allerdings bestand unser komplettes Repertoire aus „Love me do“ und „Fool on the hill“, das wir mit Saxophon, Keyboard und Gesangstimme immer wieder spielten, uns musikalisch nicht weiterentwickelten, aber vorwiegend viel Tee tranken, quatschten und lachten. Wir alle drei waren nicht so ganz normal und das hat gut gepasst.
Weil wir uns seit mehr als dreißig Jahren „bald mal treffen wollen“, ziehen wir es jetzt endlich durch. In Hillesheim, weil das ungefähr in der Mitte unserer Wohnorte liegt. Wir sitzen im Krimicafé am „Miss Marple“-Tisch und einer der Freunde fragt die Bedienung nach den Kuchensorten, die er entfernt an der Theke sehen kann. „Es gibt Joghurt-Erdbeer oder Käsesahne mit einem Streifen von Himbeere“, sagt die Bedienung. „Dann nehme ich Käsesahne mit einem Streifen von Himbeere“, bestellt er korrekt. Zwei Minuten später steht die Bedienung wieder am Tisch und sagt trocken: „Die Käsesahne mit einem Streifen von Himbeere ist Bienenstich.“ Genau mein Humor. Ich finde so was sehr lustig. Aber ich mag ja auch das Café Sherlock sehr und ich freue mich, dass unser Treffen endlich klappt. Wir sind äußerlich ein bisschen älter, innerlich nicht so sehr, als Band wären wir weiterhin ein Flop, aber wir verstehen uns immer noch gut und das völlig unangestrengt. Beim ersten Bissen meiner Scones mit Clotted Cream schmelze ich innerlich glückselig hin, der Tee dazu ist stark und perfekt, und wir verquatschen den Nachmittag im Café.

Vom Café gehen wir nur ein kurzes Stück über die Straße, setzen uns in ein griechisches Restaurant und reden und essen weiter bis zum Abend. Zum Abschluss nehmen wir uns vor, nicht wieder 30 Jahre bis zum nächsten Treffen zu warten.